Eine Wohnung vom Berliner Krempelmarkt

Polens Presse beschäftigt sich mit der Welle polnischer Händler in West-Berlin / „Sie schädigen das polnische Prestige“ Ausführliche Pressediskussion über die Ursachen der Entwicklung / „Wie lange die Deutschen das wohl mitmachen?“  ■  Aus Warschau Klaus Bachmann

„Polen in der Rolle ungebetener Gäste“, titelt das Parteiorgan der PVAP, 'Trybuna Ludu‘. „Warum gehen sie?“, fragt sich 'The Warsaw Voice‘, Polens einzige englischsprachige Zeitung. „Wegen Schwarzarbeit: 37 polnische Bürger aus West-Berlin ausgewiesen“, wieder 'Trybuna Ludu‘. Längst ist der Zustrom polnischer Einwanderer Händler, Asylsuchender und Aussiedler auch in der polnischen Presse zum Thema geworden.

Dabei sehen Polens Massenmedien wie auch weite Teile der Bevölkerung die Entwicklung mit Sorge, oft sogar mit offener Abneigung. Viele Polen schämen sich regelrecht für das Verhalten ihrer Landsleute, die in Scharen nach West-Berlin reisen und dort eingeschmuggelte Waren auf Flohmärkten verkaufen - Waren, die in Polen häufig knapp sind: Wurst, Fleisch, Konserven, Stoffe, Kleidung. Für diese Art Händler, die mit Touristenpässen einreisen, hat die polnische Presse inzwischen das Wort „Pseudotouristen“ geprägt. Den Vorwurf, das polnische Prestige zu ruinieren, sich gar für Geld zu erniedrigen, stecken die Händler gelassen weg: Die Gewinnspanne ist einfach zu hoch.

Trotz des geringen Ansehens der Händler in Polen selbst ist der Trip nach Berlin (seit neuestem auch in die Türkei) fast schon zu einer Massenerscheinung geworden, seit fast jeder ohne größeren bürokratischen Aufwand einen Reisepaß bekommen kann. Anderswo war dies vorher schon so: etwa in Budapest oder in Prag. Inzwischen haben die sozialistischen Bruderländer allerdings so sehr ihre Einreise beziehungsweise Ausfuhrbestimmungen und Grenzkontrollen verschärft, daß sie im Vergleich zu West-Berlin unattraktiv geworden sind.

Die Frage, warum Polen wie im 19.Jahrhundert „nach Sachsen“ oder „ins Reich“ fahren (die Ausdrücke werden heute noch gern benutzt), beantwortet denn auch 'The Warsaw Voice‘ eindeutig: „Big and easy money.“ Schwarzarbeit und Schwarzhandel seien oft die einzige Möglichkeit, in Polen zu einer eigenen Wohnung zu kommen. über 40 Prozent frisch verheirateter Paare warten derzeit auf eine eigene Wohnung, mit der Aussicht, in ein paar Jahrzehnten eine zugeteilt zu bekommen. Wer eine eigene kaufen will, was wesentlich schneller zu erledigen ist, zahlt in Dollar. Zu Preisen, die sich dem westlichen Wohnungsmarkt immer mehr annähern.

Doch längst geht es nicht mehr um Grundbedürfnisse wie eine Wohnung. Die Zeitschrift 'Reporter‘: „In die BRD fahren und mit leeren Taschen zurückkommen? Dafür gibt es doch vor den Freunden überhaupt keine Erklärung. Jeder bringt schließlich was mit.“ „Und da stehen sie dann“, berichtet 'Polityka‘, „neben der Anzeigentafel bei der polnischen Kirche in West -Berlin: 'Elektroingenieur nimmt jede Arbeit an‘.“ „Ich habe aufgehört, in die Kirche in West-Berlin zu gehen“, so eine ältere Frau, „dieser ganze Reibach, selbst bei der Wandlung reden sie von den Geschäften.“

Ganz unschuldig seien die deutschen Behörden an der Entwicklung nicht, schreibt die 'Trybuna Ludu‘. Zwar spreche man einerseits von einer Flut von Schwarzarbeitern und Händlern, andererseits nehme man Fachleute mit offenen Händen auf. Alle bürokratischen Hindernisse wie Arbeitserlaubnis, Aufenthaltsgenehmigung oder gar Staatsbürgerschaft seien wie weggeblasen, wenn es sich bei dem Antragsteller nicht um einen Taxifahrer oder Maurer, sondern beispielsweise um einen Restaurateurfachmann aus Poznan handele. Andere versuche man mit Kontrollen, Razzien und anderen Einschüchterungen abzuhalten. Ohne Erfolg übrigens, wie die Erfahrung zeigt.

Wer zur Zeit einen Sitzplatz in einem Zug nach West-Berlin oder selbst einen Platz im Flugzeug haben will, tut gut daran, Wochen im Voraus zu reservieren. Angesichts der Realitäten hat die polnische Eisenbahn sich einen besonderen Willkommensgruß für die Handelsreisenden ausgedacht: Strafe für Überladung des Abteils. In den letzten Wochen prägen Sorgenfalten die Mienen der Händler: Angeblich hat die Polizei in West-Berlin beschlossen, gegen die Schwarzhändler härter durchzugreifen. Fast täglich kommen im Fernsehen die neuesten Zahlen über in Berlin festgenommene Polen. Aber mit dieser Entwicklung war aufgrund der Erfahrung mit anderen Ländern ohnehin schon zu rechnen. Mancher fragte sich schon erstaunt: „Wie lange die Deutschen das wohl mitmachen?“