Das Ende der „bleiernen Jahre“...

...oder der Beginn einer neuen „Strategie der Spannung“? / Mit Spätprozessen und neuen Mutmaßungen über Drahtzieher sucht Italien den „bewaffneten Kampf“ zu „bewältigen“ / Hochkommissar vermutet Mafia hinter Rote-Brigade-Anschlägen  ■  Aus Rom Werner Raith

Mit einer Reihe spektakulärer Prozesse, an deren Hintergründe sich kaum noch jemand erinnert, suchen Italiens Richter wieder einmal, die siebziger Jahre - „anni di piombo“, bleierne Jahre genannt - zu bewältigen. Im Hochsicherheitstrakt des römisches Zuchthauses Rebibbia hat vorige Woche, nach den „kriminalistischen“ Verfahren der frühen 80er Jahre, der „politische“ Prozeß gegen die Roten Brigaden begonnen; ebenfalls in Rom hat der Kassationsgerichtshof (entspricht unserem Bundesgerichtshof) das vergleichsweise sehr hohe Urteil von vier Jahren Gefängnis gegen den „Autonomia-operaia„-Führer Franco Piperno wegen ideologischer Förderung linksmilitanter Bandenbildung bestätigt; in Neapel findet die - mit mehreren lebenslänglich längst abgeurteilte - Entführung, speziell aber die Befreiung des damaligen Regionaldezernenten Ciro Cirillo ein politisch-gerichtliches Nachspiel. Gleichzeitig ist der Hochkommissar zum Kampf gegen das organisierte Verbrechen, Domenico Sica, mit einer neuen Theorie über terroristische Gewalttaten der siebziger und frühen achtziger Jahre hervorgetreten - danach soll nun immer und überall die Mafia dahinter gesteckt haben.

Hat Sica recht, müssen die Römer ihren Prozeß gegen die Rotbrigadisten so schnell wie möglich einstellen. Setzt sich der Staatsanwalt durch, muß wohl Sica seinen Hut nehmen. Denn die in Rom angeklagten 254 Mitglieder der Roten Brigaden, nahezu allesamt schon wegen ihrer bisherigen Einzeltaten in den drei bisherigen Großprozessen zu hohen Strafen verurteilt, stehen diesmal nicht wegen irgendwelcher Schüsse oder Entführungen vor Gericht, sondern wegen „Aufstand gegen die Staatsgewalt“, zu bestrafen mit lebenslänglich nach dem noch immer geltenden „Codice Rocco“ aus der Zeit des Faschismus. So finden sich erstmals alle vereint, die im Rahmen des „bewaffneten Kampfes“ eine Rolle gespielt haben: von der Gründergeneration um Renato Curcio über den „Architekten“ der Entführung und Ermordung des christdemokratischen Parteiführers Aldo Moro (1978), Mario Moretti, bis zum Leiter der neapolitanischen Kolonne Giovanni Senzani, dem die Entführung des Nato-Generals Dozier Anfang der achtziger Jahre angelastet wird. Bislang geht es vor dem Schwurgericht in Rom allerdings noch um rein prozessuale Fragen, erst danach kann die inhaltliche Debatte beginnen: dann allerdings wird mit Sicherheit sofort die These Sicas - die Mafia als Drahtzieher - zur Sprache kommen.

Noch ist nicht klar, ob und inwieweit der Hochkommissar seine Behauptungen beweisen kann, denn bisher ist lediglich das Zusammenspiel von sizilianischer Mafia und Rechtsterrorismus einigermaßen belegt. Doch möglicherweise bezieht sich Sica unter anderen auch auf jenen Prozeß, der gerade in Neapel begonnen hat: Darin ist zwar nicht unmittelbar die Mafia als Drahtzieher bei der Entführung von Ciro Cirillo durch die Roten Brigaden angeklagt, wohl aber ein Gemisch aus Camorra, Geheimdienstlern und christdemokratischen Politikern, die sich um die Befreiung der Geisel „verdient“ gemacht haben.

So soll schon kurz nach der Entführung mit Billigung des damaligen christdemokratischen Justizministers Clelio Darida ein Geheimdienstoffizier den einsitzenden Camorra-Boss Raffaele Cutolo um Hilfe bei der Lösung des Falles gebeten haben. Cutolo durfte daraufhin ungestört seine seit Jahren vor der Polizei flüchtigen Leutnants ins Gefängnis kommen lassen und ihnen Anordnungen geben. Ein ganzes Bündel hochrangiger Christdemokraten besuchte den Gangster und soll ihm Bauaufträge in Millionen-Mark-Höhe zugesichert sowie die Drittelung des Lösegelds von umgerechnet circa zehn Millionen Mark zwischen Roten Brigaden, Camorra und Geheimdienstlern verabredet haben. Um den anrüchigen Fall rankten sich weitere spektakuläre Vorgänge: So veröffentlichte die kommunistische Parteizeitung 'L'Unita‘ 1982 Berichte über Politiker, die mit Cutolo gekunkelt haben sollen. Dabei stellte sich heraus, daß das zugrundeliegende Dokument gefälscht war - nicht aber die Tatsache der Kungelei. Der Verfasser des Schriftstücks, ein rechtsradikaler Gerichtsmediziner, wurde kurz danach ermordet aufgefunden. Letztes Kapitel vor dem Prozeß war dann der Maulkorb, den der sozialistische Justizminister Vasalli 1988 dem zuständigen Staatsanwalt umhängen wollte, weil dieser mehrere christdemokratischen Parteiobere bei ihren Aussagen im Fall Cirillo als „wenig glaubwürdig“ qualifiziert hatte. Ein Gericht hat den von Vasalli angeklagten Staatsanwalt just vorige Woche vom Vorwurf des Amtsmißbrauchs freigesprochen. So sollen denn zu diesem Prozeß nicht nur die unmittelbar Beteiligten, sondern auch die lokalen, regionalen und auch nationalen Parteifürsten der DC als Zeugen gehört werden - bis hin zu Ministerpräsident De Mita, dessen Parteibasis jene Region Campania ist, in der der Fall Cirillo spielt - und wo der Boss Cutolo seine lukrativen Bauaufträge zugeschanzt bekommen hat.