Mehr Rückgrat zeigen

Berlins Alternative Liste vor der Koalition  ■ K O M M E N T A R E

Der rot-grüne Verhandlungspoker ist beendet. Es hieße, sich in die Tasche zu lügen, wollte man sagen, daß hier ein wirklicher Kompromiß zwischen zwei Parteien ausgearbeitet worden ist: Es gibt die grünen Punkte im rosa Programm, aber es bleiben eben Einsprengsel, und es sind wenige dazu. Die SPD hat in der letzten Woche machtpolitisch geschickt gepokert: In entscheidenden Punkten machte sie plötzlich wieder Rückzieher. Ergebnis: Die SPD konnte in einigen „Dissenspunkten“ wieder einlenken, um der AL das Gefühl zu geben, doch noch etwas durchgesetzt zu haben.

Die Ergebnisse geben den Skeptikern recht, die das Wort der „Jahrhundertchance“ lieber nicht in den Mund nehmen wollten. Trotzdem wird es für die AL die Opposition als Alternative wohl kaum geben. Die AL kann die Dynamik in der Stadt nur um den Preis des politischen Selbstmords ignorieren. Bleibt also die Frage nach der Form der Zusammenarbeit. Ob Koaliton oder Tolerierung, daran wird der Fundi-Realo-Streit wieder aufbrechen. Es gäbe für die AL viele gute Gründe, eine Tolerierung zu favorisieren. Doch diese Option ist akademisch geworden. Gerade ein Teil der radikalen Linken wandert schnurstracks ins Lager der Koalitionäre. Hier hat sich der Linksradikalismus als hohle Geste, und Phantom entpuppt.

Ein Teil der AL hofft einen anderen als den hessischen Weg zu gehen, wenn man den Leuten sagt, daß kleine Brötchen gebacken werden müssen. Also Realismus gegen Zweckoptimismus - die erste Voraussetzung für eine Politik der bewußten Schizophrenie? Es ist eine mühsame Aufgabe, der die AL sich stellen muß: Sie muß die Dissenspunkte politisieren, damit die Brüche im Konsens vertiefen und so die Bedingungen für die Durchsetzung oppositioneller Politik verbessern. Das ist in einer Koalition schwieriger als mit einer Tolerierung wenn nicht gar unmöglich. Um so mehr Rückgrat als bisher muß die AL zeigen und beweisen, daß sie ihren Beschluß zu einer „streitbaren Zusammenarbeit“ selbst verstanden hat.

Ursel Sieber