Blutiger Jahrestag in Tibet

■ Neues Aufbegehren gegen die chinesische Oberhoheit / Tote bei Demonstrationen in Lhasa

Peking/Berlin (afp/ap/taz) - Aufstand in Tibet gegen die chinesische Herrschaft: 30 Jahre nach dem ersten blutigen Aufbegehren der Tibeter gegen die chinesische Okkupation 1951 gab es wieder Tote in Lhasa. Am Sonntag wurden elf Menschen getötet und etwa hundert verletzt. Gestern zogen erneut mehrere tausend Menschen durch die Straßen und skandierten anti-chinesische Parolen. Dabei sollen einzelne Chinesen tätlich angegriffen worden sein.Die Polizei riegelte das Chinesenviertel von Lhasa systematisch ab.

Die Zusammenstöße vom Sonntag hatten mit einem „illegalen Marsch“ von 13 buddhistischen Mönchen und Nonnen begonnen, die die verbotene tibetische Nationalflagge vor sich hertrugen. Zu Auseinandersetzungen sei es gekommen, als die Polizei die verbotene Demonstration mit Tränengas und Pistolen auflösen wollte, berichtete ein Tourist. Die Polizei habe wahllos in die Menge geschossen. Passanten seien verprügelt und viele festgenommen worden. Im gesamten Stadtgebiet habe sie dann in der Nacht zum Montag Razzien durchgeführt.

Nach Angaben der chinesischen Nachrichtenagentur 'Xinhua‘ hat es auch in den Reihen der Polizei einen Toten und 40 Verletzte gegeben. Bei über 20 Restaurants, Hotels und Läden seien die Scheiben eingeworfen und die Auslagen geplündert, Waren und Möbel auf die Straße geschleppt und angezündet worden. Auch die Büros der Regierung und der Kommunistischen Partei sollen belagert worden sein. Wie 'Xinhua‘ weiter meldet, habe die Polizei keine andere Wahl gehabt, als auf die „Unruhestifter“ zu schießen, da auch aus den Reihen der Demonstranten geschossen worden sei.

Etwa ein Dutzend ausländischer Reisender berichtete, in Lhasa seien auch gestern wieder chinesische Läden geplündert und das Inventar auf der Straße angezündet worden. „Die Straßen sind voller Menschen, überall wird laut gebrüllt, und es fliegen Steine von allen Seiten. Aus Tischen und Mülleimern werden Barrikaden errichtet, um ein mögliches Vorgehen der Polizei zu stoppen“, übermittelte ein Australier einer Nachrichtenagentur. Die anti-chinesischen Unruhen schließen sich an eine ganze Serie von Demonstrationen an, die Tibet Fortsetzung Seite 2

seit etwa anderthalb Jahren wiederholt an den Rand eines Bürgerkriegs gebracht haben. 38 Jahre nach dem

erzwungenen Anschluß Tibets an die Volksrepublik China und 30 Jahre nach dem blutigen Aufstand gegen die chinesische Oberhoheit, bei der am 10.März 1959 Zehntausende umkamen, macht sich bei den chinesischen Behörden zunehmend Ratlosigkeit breit; für den Jahrestag am 10.März erwarten Beobachter weitere Demonstrationen und Auseinandersetzungen.

Vor genau einem Jahr, am 5.März 1988, hatten sich Polizei und Jugendliche eine 16stündige Straßenschlacht geliefert, bei der nach Augenzeugenberichten acht Menschen ums Leben kamen und über 300 verletzt wurden.

300 buddhistische Mönche hatten auf den Stufen des Jokhang -Tempels von Lhasa die Tibeter zum bedingungslosen Kampf für die Unabhängigkeit aufgerufen; Frauen und Mädchen hatten die kämpfenden Mönche mit Wurfmunition versorgt. Damals hatten die chinesischen Behörden versucht, den Konflikt nicht zusätzlich durch militärische Repression eskalieren zu lassen.

In Neu-Delhi verurteilte das Büro des Dalai Lama das Vorgehen der chinesischen Polizei. Der Dalai Lama, das religiöse Oberhaupt der Tibeter, war nach den Aufständen von 1959 nach Indien ins Exil gegangen. Über hundert Exil -Tibeter zogen gestern in der indischen Hauptstadt vor die chinesische Botschaft, um ein Ende des „Massakers an ihrem Volk“ zu fordern. Die Tibeter wehren sich seit der Eingliederung der autonomen Himalaya-Region durch die Volksrepublik China im Jahre 1951 gegen die Unterdrückung ihrer nationalen und kulturellen Identität und fordern die Unabhängigkeit.

henk