Rot-Grün wagt die Vernunftehe

Die Berliner SPD und Alternative Liste einigten sich in zweitägigen Verhandlungen auf ein Sachprogramm für eine Regierungskoalition / Wohlbefinden bei der SPD - Bauchgrimmen bei der AL / CDU-Diepgen buhlt immer noch um verlorenen Partner für große Koalition  ■  Von Brigitte Fehrle

Berlin (taz) - Sie schlief eine Nacht drüber - dann sagte sie JA. Trotz erheblicher Bedenken wird die Berliner Alternative Liste den Parteigremien das am Wochenende mit der SPD ausgehandelte Sachprogramm zu einer rot-grünen Koalition zur Annahme empfehlen.

Die SPD-Mitglieder werden auf einem außerordentlichen Landesparteitag ebenfalls aufgefordert, dem Sachergebnis zuzustimmen und für eine Koalition mit der Alternativen Liste zu votieren. SPD-Chef Momper nannte gestern das Ergebnis „befriedigend“. Man habe intensiv und hart verhandelt und dort, wo es möglich gewesen sei, Kompromisse gemacht. Die AL allerdings hat erhebliches Bauchgrimmen. AL -Vorstandsmitglied Ströbele sagte, die Alternative Liste habe „vieles in ihren originären Politikfeldern“ nicht durchsetzen können. Deshalb beinhalte das Ergebnis ein hohes Risiko für ein rot-grünes Bündnis. Ströbele bezeichnete das Ergebnis der Verhandlungen aber andererseits auch als „verläßliche Grundlage für eine Vernunftehe“.

Walter Momper wurde gestern in den Formulierungen nahezu euphorisch. Eine „ehrgeizige Reformpolitik“ nannte er das rot-grüne Vorhaben. Man wolle eine „ökologische Wende“ und „soziale Gerechtigkeit“ in einer „jungen modernen Stadt“ durchsetzen. Dazu gehöre auch eine liberale Innen- und Rechtspolitik. Das von der SPD in ihrer Oppositionszeit entwickelte Programm „Arbeit und Umwelt“ soll zunächst allerdings nur in einer schmalbrüstigen Version begonnen und dann bis zum Jahr 1992 mit dem vollen finanziellen Volumen ausgestattet werden. Modellhaft - und hier hat sich die Alternative Liste durchgesetzt - solle es eine Umweltkarte für die öffentlichen Verkehrsmittel für 65 Mark im Monat geben. Auch mit einem Modellversuch „Nachttaxi“ für Frauen, kam die AL am Ende durch. Müll wird in Zukunft in Berlin getrennt gesammelt.

Keinerlei Zugeständnisse aber machte die SPD bei der Wirtschaftspolitik. Die Berlinförderung bleibt vorläufig wie sie ist. Und die Kassen des Landes werden nicht über eine Erhöhung der Gewerbesteuer aufgefüllt. Auch die Ausbildungsabgabe lehnte die SPD konsequent ab. „Von einer rot-grünen Regierung wird keine Gefährdung für die Fortsetzung auf Seite 2

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Wirtschaft ausgehen“, betonte Momper gestern erneut. Klein und Mittelbetriebe sollen dagegen stärker als bisher gefördert werden. Der Korruption im Baubereich will die SPD/AL- Koalition den Boden entziehen, indem wieder mehr im öffentlichen Wohnungsbau gebaut wird. 7.000 Wohnungen pro Jahr hat sich der zukünftige SPD-Bausenator vorgenommen. Experten bezweifeln, daß er dafür die notwendigen Grundstücke finden wird. Zu recht wird auch darauf hingewiesen, daß bei den steigenden Einwohnerzahlen - unter anderem durch Aussiedler und Zuwanderer - mit einem Programm in dieser Höhe die Wohnungsnot nicht gelindert werden kann.

Der Chef Momper persönlich hat das Frauenprogramm ausgehandelt. Der öffentliche Dienst soll quotiert werden. Ob das allerdings bedeutet, daß ab sofort Stellen nur noch an Frauen vergeben werden, bis die 50 Prozent erreicht sind, mußte Momper ausweichend beantworten: „Im Endeffekt ja“, hieß es.

Die Forderungen der Alternativen Liste zur Polizei blieben weitgehend unerfüllt. Weder werden Polizeibeamte in Zukunft gekennzeichnet sein noch wird die „Freiwillige Polizeireserve“ aufgelöst. Berlin wird auch weiterhin die Stadt mit der größten Polizeipräsenz bleiben. Hier wird nicht reduziert. In der Kulturpolitik soll es „Korrekturen“ geben. Der Bau des „Deutschen Historischen Museums“ bleibt weiter ein Streitpunkt. Die SPD hat sich nur - kurz vor halb zwei Uhr gestern morgens und nach 16stündigen Ver

handlungen - bereit erklärt, erneut mit der Bundesregierung über das Konzept und den Standort des unerwünschten „Geschenks“ zu verhandeln.

Die „neue politische Kultur“, die Rot-Grün in die Stadt tragen wollte, ist sehr klein geraten. Die Rechte des Parlaments sollen gestärkt werden, die Wahlkampfkostenpauschale wird nicht erhöht.

Dem Griff der Parlamentarier in die Kasse - die Diätenerhöhungen - wurde kein Einhalt geboten. Der entscheidende Konflikt aber lauert noch vor der rot-grünen Tür. Bislang wurde nämlich nicht festgelegt, wo die 800 Millionen Mark, die man 1990 für neue Aufgaben benötigt, eingespart werden sollen. Die Haushaltsberatungen beginnen im Oktober.

Indessen hat der CDU-Landesvorsitzende und amtierende Bürgermeister Diepgen die SPD erneut zur Zusammenarbeit aufgefordert. Die Einigung zwischen SPD und Alternativer Liste erfülle ihn mit „großer Sorge“, sagte Diepgen. Er fordert von den Sozialdemokraten „Selbstbesinnung“.

Kritik kam auch AL-intern. Die Ökosozialisten bei den Grünen lehnen das Ergebnis der Verhandlungen ab. Die zukünftige Bundestagsabgeordnete Siggi Fries kritisierte vor allem, daß keine spürbare Erhöhung der Sozialhilfe erreicht worden sei und daß die AL nicht auf der Kennzeichnung der Polizei bestanden habe. Sie bilanzierte „90 Prozent Dissenz“.