Vera Rüdiger im Altersheim

■ Schlanke Gesundheitssenatorin erledigt Gesundheitsreform des kleinen Dicken mit schwerem Parteidegen / DRK-Krankenhaus: „Ich habe noch Aufklärungsbedarf!“

Das Volk, 25 silberhaarige alte Damen und zwei ebensolche Herren des Altersheims Luisental der Bremer Heimstiftung, wartet. Auf die Gesundheitsenatorin des Landes, Dr. Vera Rüdiger, und den Start zum Kuchengabelheben, der irgendwie mit dem senatorischen Erscheinen verknüpft ist. Frau Rüdiger kommt pünktlich fünf vor vier und mit großem Gefolge. Die Würdenträger sitzen den Kuchentischen des Volkes von Angesicht zu Angesicht und sehen unwürdig jung aus.

„Sie haben sicher schon Ihren Kaffee getrunken“, leitet die Gesundheitsregentin ihre Rede ein. Direkter Bezug, sonst von ihr selten gewählt. Neinnein, protestiert das Volk. Wie dem auch sei: Vera Rüdiger beginnt ihre Rede über das „schlampige, Heiße-Nadel-Gesetz“, die Blümsche Gesundheitsreform, das Volk beginnt mit dem Verzehr von Kaffee und Stückchen.

Schon im September sollte die Senatorin hier über die Gesundheitsreform sprechen, damals scheiterte das an Geiselnehmer-Krise. Jetzt, ein halbes Jahr später, hat sich Volkes Zorn über

dem Gesetz zusammengeballt. Die Ministerin trägt den Zorn zum Volk zurück. Immer wieder erwähnt sie Fernseh-und Rundfunksendungen, heißklingelnde Krankenkassentelefone und die vielen Versammlungen mit Zornige-Rentner-Berichten. Einmal mehr entlarvt sie die verbale Dreistigkeit von der „Selbstbeteiligung“ für Versicherte, die ja qua Beitrag ohnehin an den Kosten beteiligt sind, die Förderung der „Eigenverantwortung“, die nur die kleinen Portemonnaies vorm Artztbesuch zögern läßt, die dicken aber nicht.

Sie vergißt keine der Sünden des kleinen Dicken, der auszog, Ärzte und Pharmaindustrie zu bremsen, tatsächlich aber nur die sozial Schwächsten belastete: das Sterbegeld halbiert und für nach dem 2.1.89 Eintretende überhaupt gestrichen („inhuman, unvertretbar“), die erschwert zu erwerbenden Brillen und Kontaktlinsen, die fraglichen Festbeträge bei der Liste der zugelassenen Medikamente, die Nichterstattung von Abführmitteln für den Querschnittsgelähmten, für den sie lebenswichtig sind, das „be

sonders schöne Beispiel“ des Zahnersatzes, die gestrichenen ambulanten Taxifahrten, die Härtefallregelung („ein Skandal!“) .... Trommelt's aufrecht stehend und frei sprechend auf das leise kuchengabelklappernde Volk hernieder, eine lange Stunde.

Kompetent, diszipliniert, untadelig frisiert wie immer, kleine Ausgehuniform, kurze Jacke in karmesinrot, schwarzer, hochgeschnittener Rock, in der rechten Hand das Mikrofon, die linke sportlich wie Reitlehrerin in die taillierte Taille gestützt, die Stimme festgehalten, erst nach einer Stunde gestattet sie sich einige entspannte Töne, auf die das Volk mit aufatmender Zustimmung reagiert. Aber sonst: Parteisoldatin, nix an zu tippen.

Nachdem das Volk solchermaßen diszipliniert mit dem seinem eigenen (wenn auch vielleicht nicht am dollsten aus Horn) stammenden Zorn beballert worden ist, darf es Fragen stellen. „Nur Mut“, macht die Versammlungsleiterin. „Wir sind ganz ihrer Meinung“, murmelt eine hinBLOCKENDEten links. Eben. Eine andere aber findet das ein

zige nicht verstopfte Frageloch: Was man denn tun könne?

Schönen Dank! Die Senatorin, deren Partei das Gesetz von Anfang an kritisiert hat, empfiehlt, bei der nächsten Wahl zu prüfen, ob die auf dem rechten Sprung sind, die man gewählt hat. Die Wahlen seien aber noch lange hin, findet eine Zuhörerin.

Leben kommt doch noch auf, als eine rosige alte Dame empört nach der anderen fragt, die ohne ärztliche Versorgung vor dem DRK-Krankenhaus gestorben ist. Die Erklärung, warum nicht geholfen worden sei, habe auch sie „in höchsten Maße empört“, sagt Vera Rüdiger: Ein Zurückziehen auf eine Richtlinie, die dies verbiete, gäbe es nicht; die Verantwortung, ob Hilfe zu leisten sei, auf den Pförtner abzuladen sei, sei unstatthaft; daß in jedem Fall ein Arzt zu informieren sei, habe sie angeordnet, die Darstellung der Klinikleitung befriedige sie nicht, „ich habe noch Aufklärungsbedarf“, ein Untersuchungsbericht sei angefordert. Das Soldatische hat auch Vorteile, es fackelt nicht, es tut was. Uta Stolle