Der Tröster und die Todesangst

■ Vergewaltigung vor der Großen Strafkammer: Angeklagter schildert ein alltägliches Ereignis, Opfer eine brutale Vergewaltigung / Verteidiger verdächtigt den Freund des Opfers, die Körperverletzungen begangen zu haben

Klaus G. fühlt sich so unschuldig, wie sich ein Mann nur fühlen kann. Ohne daß ihm irgendwelche Emotionen anzumerken sind, erzählt er seine Geschichte einer

Nacht, der Nacht vom 19. auf den 20. Februar 1988. Da traf er die heute 26jährige Pia R. in der Gaststätte „Biergarten“ in der Bremer Neustadt. Pia war „auf

gelöst“, wie sie es später selbst nennt, weinte, weil sie sich wieder einmal mit ihrem Freund verkracht hatte. Klaus G. tröstet sie und bringt sie schließlich in ihre Wohnung. „Dann hat sie mich gebeten, zu bleiben, weil sie Angst vor ihrem Freund hatte“, sagt er. „Als ich dann aus dem Bad kam, lag sie ausgezogen auf der Schlafcouch, auf der eigentlich ich schlafen sollte.“ Das weitere, so Klaus G. „hat sich automatisch ergeben.“ Sie kam, da ist er sich sicher, zum Orgasmus. „Ich nicht. Sie wollte aber, daß ich komme, und dann hat sie es mit dem Mund gemacht.“

Pia R. zittert am ganzen Körper, als sie gestern den Saal, in dem die Große Strafkammer beim Landgericht tagt, betritt. Denn das als so harmlos geschilderte Saufanschlußdelikt nennt die Anklage Vergewaltigung, gefährliche Körperverletzung und sexuelle Nötigung. Trotz eines Mikrophons ist Pia R.'s Geschichte dieser Nacht im Gerichtssaal kaum zu hören. Ja, ihr war es schon recht, daß er sie nach oben brachte, eben wegen des Streites mit ihrem bisweilen gewalttäti

gen Freund. Aber in der Wohnung wäre sie den Beschützer am liebsten sofort losgeworden. Der will ihre höfliche Aufforderung zu gehen - sie zieht sich die Schuhe aus nicht verstehen. Und als sie ihn auffordert, ihre Wohnung zu verlassen, da, so Pia G., „wurde er total hektisch.“ Er habe sie geschlagen, gewürgt, die Kette zerrißen, sie gewaltsam entkleidet. „Ich habe nur gelegen und gedacht: es kann nicht sein. Das kann man mit Worten nicht erklären.“ Als er zwischendurch auf's Klo geht, will sie zum Fenster, um Hilfe rufen. Doch Ralf G. kommt zurück, schlägt sie und würgt sie wieder. „Da hatte ich totale Todesangst. Mir war es scheißegal, was ich noch machen sollte, ich wollte leben.“ Sie nennt ihn einen tollen Mann, der so etwas doch gar nicht nötig habe, und befriedigt ihn, auf sein Verlangen mit dem Mund. „Es war so ekelhaft. Ich habe immer gedacht, Du darfst nicht weinen, Du mußt das Spiel zu Ende machen.“ Am nächsten Morgen, so etwa gegen 7.00 Uhr verlassen beide die Wohnung. Pia R. geht über die Straße in die Wohnung

ihres Freundes, der die Polizei ruft. Sie hat Würgemale am Hals, ein geschwollenes Gesicht, ein blaues Auge, einen Riß hinter dem Ohr, Kratzer auf dem Rücken.

Wen Rechtsanwalt Wilfried Behrendt für den Körperverletzer hält, macht er spätestens bei der Vernehmung von Franz L., dem damaligen Freund von Pia, deutlich. Er bittet Franz L. und den Angeklagten zum Richtertisch, um ihre Fingernägel vorzuzeigen. Des Rechtsanwalts Beweis: Da Franz L., jetzt, ein Jahr nach der Tat, lange Fingernägel hat, der Angeklagte dagegen kurze, könnten die Kratzer auf dem Rücken nicht von seinem Mandanten kommen. Auch sonst bemüht sich Behrendt, Zeugenaussagen zusammenzutragen, die die Gewalttätigkeit von Franz L. belegen sollen. An dem Abend im Biergarten hatte dieser die angetrunkene Pia einmal gewaltsam vom Barhocker gezogen. Hat er sie vielleicht dabei gewürgt und verletzt? Doch so genau kann das keiner der Kneipenbesucher, die den Vorfall beobachtet hatten, ein Jahr später sagen.

Da ist noch ein anderer Punkt, der den Anwalt umtreibt. Die Besitzerin der Kneipe, sie wohnt über Pia R., hatte zwei Stunden nachdem die Polizei gegangen war, aus Pia's Wohnung einen Schrei gehört, den sie dem Gericht gar nicht so recht beschreiben konnte, eine Art „vermischtes Würgen“. Der Verdacht steht unausgesprochen im Raum: Hat vielleicht Franz L. erst da seiner Freundin einen Teil der Verletzungen beigebracht? Seine Erklärung klingt plausibel: „Sie war völlig fertig, hat geweint. Ich wollte sie in den Arm nehmen, da hat sie geschrien.“

Der Antrag des Verteidigers, das Opfer und ihren Freund zu vereidigen und beide noch einmal als Zeugen zu hören, wird abgelehnt. Pia R. kann noch am gleichen Tag mit Franz R., inzwischen ihr Ehemann, in die neue Heimat Österreich zurückfahren. Zu Bremen hat sie nach der Tat alle Brücken abgebrochen. Als sie den Gerichtssaal verläßt, zittert sie immer noch.

Holger Bruns-Kösters

Fortsetzung: Freitag 9.00 Uhr, Raum, 231 im Landgericht.