: Provinzielle Region will Drehscheibe werden
Schleswig-Holstein will nach 1992 Brücke zur EFTA werden / Aber: Finanzielle Pleite, eisenbahntechnisches Loch, technologische Lücke ■ Aus Kiel Jürgen Oetting
Ministerpräsident Björn Engholm war sauer. Ende Februar hielt er seinem Sozial- und Energieminister Günther Jansen im Kieler Kabinett eine Gardinenpredigt. Atomstromgegner Jansen hatte nach einem Bündel juristischer Niederlagen im Streit um die Sicherheit der schleswig-holsteinischen Atomkraftwerke die Richter des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg in aller Öffentlichkeit gescholten. Engholm empfahl seinem Minister dringend, in der öffentlichen Debatte um den Atomausstieg künftig „moderater“ vorzugehen, damit potentielle Investoren aus der Wirtschaft nicht abgeschreckt würden. Wirtschaftspolitik ist zwischen den Meeren längst zur „Chefsache“ geworden, der zuständige Fachminister Franz Froschmeier spielt nur eine blasse Nebenrolle.
Die großen ökonomischen Entwürfe präsentiert Engholm selbst und auch die permanente Werbearbeit um Investitionen hat der Regierungschef weitgehend selbst übernommen. Der Präsident der Kieler Industrie- und Handelskammer (IHK) Fritz Süverkrüp nannte Engholm auf dem Jahresempfang seiner Organisation gar den „ersten Akquisiteur“ des Bundeslandes. Das Verhältnis zwischen dem Ministerpräsidenten und den Wirtschaftsbossen könnte gänzlich ungetrübt sein, wäre da nicht das sozialdemokratische Versprechen vom Ausstieg aus der Atomkraft vor der Landtagswahl im Mai 1988. Das wird von Süverkrüp als „außerordentlich kontraproduktiv“ für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes bewertet.
Die noch vorherrschende Zurückhaltung der Großinvestoren erklärt sich aber nicht allein aus der SPD-Energiepolitik. Aus der Randlage Schleswig-Holsteins ergeben sich erhebliche Probleme der Infrastruktur. IHK-Präsident Süverkrüp möchte sie durch eine weitere Elbquerung mildern, bisher geht fast der gesamte Verkehr vom Süden nach Schleswig-Holstein durch das Nadelöhr Hamburg. Engholms Entwürfe sind großkalibriger: Er möchte Schleswig-Holstein vom Rand des volkswirtschaftlichen Geschehens ins Zentrum rücken, als Mittelpunkt einer „neuen Hanse“ sozusagen.
Vor dem Hintergrund der Verwirklichung des EG-Binnenmarktes ab 1992 könne Schleswig-Holstein eine wichtige Brückenfunktion zu den skandinavischen EFTA -Mitgliederstaaten zukommen. Dabei soll das nördlichste Bundesland nicht nur Handelsbrücke, sondern auch Standort für skandinavische Firmen werden, die sich damit ein EG -Standbein schaffen könnten. Die größten wirtschaftlichen Möglichkeiten sieht Engholm darin, daß mittelständische Unternehmen aus Schleswig-Holstein und den Ostsee -Anrainerstaaten eine Zusammenarbeit vereinbaren, um den Anforderungen des europäischen und des Weltmarktes zu genügen.
Obwohl der SPD-Politiker betont, er setze nicht auf die großen, spektakulären Industrieansiedlungen, sondern auf die unverbrauchte Kraft der vielen kleinen und mittleren Betriebe, sind die Großkonzerne nicht völlig aus seinem Blickfeld verschwunden. Im Dezember des vorigen Jahres führte er geheime Gespräche mit Spitzenmanagern von Daimler -Benz, AEG und Siemens. Viel wurde über die Inhalte dieser Unterredungen nicht bekannt, nur daß es auch hier um die Theorie von der Brücke nach Norden ging. Im Gespräch mit Daimler-Banz-Chef Edzard Reuter hätten Überlegungen eine Rolle gespielt, Teile der Mercedes-Produktion nach Schleswig -Holstein zu verlagern, um von hier aus den Export auf neue Märkte im Norden - und auch im Osten - zu starten.
Doch bevor Schleswig-Holstein für bundesdeutsche Konzerne und skandinavische Mittelbetriebe zum attraktiven Standort und für den europäischen Nord-Süd-Handel zur wirklichen Drehscheibe werden kann, müßte das Land etliche Vorleistungen bringen. Die nordelbische Infrastruktur ist provinziell.
Bei der seit Jahren geforderten Elektrifizierung der beiden Hauptbahnlinien von Hamburg nach Flensburg beziehungsweise von Hamburg über Lübeck zum Fährhafen Puttgarden könnte der Bund helfen, wenn er denn wollte. Noch jedenfalls klafft zwischen Dänemark und Hamburg ein eisenbahntechnisches Loch. Nördlich des Bahnhofs Hamburg-Altona gibt es keine Oberleitungen, hier sind noch Dieselloks en vogue.
Noch düsterer sieht es um die Technologiestandards im Lande aus. Anwendungsorientierte Forschung wird von den wenigen Hochschulen und ein paar Wirtschaftsunternehmen gerade erst entdeckt. Das Auffüllen der technologischen Lücke im Norden dürfte teuer kommen, und da sitzt der große Haken der Engholmschen Wirtschaftsvisionen. Das nördlichste Bundesland ist finanzpolitisch am Ende.
Um ihren ersten Haushalt ausgleichen zu können, muß die Landesregierung 1,15 Milliarden Mark neuer Schulden aufnehmen. Darüber hinaus hängt ein Bonner Damoklesschwert über dem Finanzministerium an der Förde. Schleswig-Holstein muß an den Bund fast eine halbe Milliarde Mark zurückzahlen, weil die Volkszählung ergeben hatte, daß noch weniger Menschen zwischen den Deichen leben als bisher angenommen. Die Bonner Ausgleichszahlungen wurden jahrelang aufgrund falscher Bevölkerungszahlen errechnet. Bundesfinanzminister Gerhard Stoltenberg besteht ohne Rücksicht auf Heimatgefühle auf Rückzahlung.
Die Finanzmisere des Landes ist nicht unbedingt Investitionsanreiz. Deshalb machte IHK-Präsident Süverkrüp der SPD-Finanzministerin Heide Simonis einen relativ hilflosen Vorschlag: Sie solle sich mit öffentlichen Klagen über den Landeshaushalt zurückhalten. Wer wolle schon Partner eines Landes sein, das ständig von sich behaupte, pleite zu sein.
Schulden kann man verschweigen, wegdenken kann man sie nicht. Deshalb wird auch eine weitere Engholm-Erfindung schnell an die engen ökonomischen Grenzen des Landes stoßen: die „Denkfabrik“. Handverlesene Wirtschaftstheoretiker sollen Schleswig-Holsteins Möglichkeiten auf dem EG -Binnenmarkt ausloten. Ob eine neue Denkfabrik auch neues Denken produziert, darf bezweifelt werden. Einer der von Engholm verpflichteten Vordenker heißt Karl Schilller, Exbundessuperminister und Alt-Keynsianist. AM WECHSELTRESEN Der US-Dollar eröffnete am Dienstagmorgen fest mit 1,8540 DM. Händler rechneten mit einem weiteren moderaten Anstieg. Mit Spannung wurden die neuen US-Arbeitsmarktzahlen erwartet, von denen man sich ein deutliches Zeichen für den Fortgang der US-Konjunktur und eine Reaktion der US -Notenbank versprach. Auch das Pfund begann fest mit 3,1950 DM. Der Schweizer Franken lag bei 116,95 DM. Gold: 386,75 Dollar für die Feinunze.
Die neueste Volkszählung ergab: Zu wenige Menschen zwischen den Deichen
Foto: taz
8WIRTSCHAFTMITTWOCH, 8/3/89
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