NEGATIV? NEIN!

■ Henry Rollins und Hubert Selby heute im Quartier Latin

Name: Rollins, Henry, 27 Jahre alt. Ex-„Black Flag„ -Frontkämpfer. Besondere Kennzeichen: gesunder Haarwuchs auf den gesunden Zähnen seines nicht klein zu kriegenden Schandmauls. The big ugly mouth lästert ab. Rollins nimmt kein Blatt vor den Mund, auch bei seinen Lesungen nicht. In der Regel redet, schreit, brüllt er ohne Skript; er braucht keine Vorgabe, es ist alles in seinem Kopf, bereit, rausgeschleudert zu werden. Er verarbeitet seine Gefühls- und Gedankenwelt zu Verbalattacken, die er reiten muß, damit es ihm nicht dreckig geht oder es unangenehm oder gefährlich wird - für sich und andere. Worte sind ihm Wergzeuge, mit denen er hart arbeitet. Sein Körper bestimmt den Rhythmus der Angriffswellen, die dem Publikum Sätze heißer Ohren verpassen. Ist sein Organ erstmal warmgelaufen, gibt's kein Entrinnen, kein Zurück mehr.

Seine Energie reißt mit, wirkt maßlos anmachend, aufstachelnd, kein Stoff für Lethargien. Rollins hat was zu sagen, und es ist gut, ihm zuzuhören. Man spürt einfach, daß dieser Typ keinen Stuß erzählt, weil er sich verdammt ernst nimmt und das auch ernst meint; eine Symbiose von eiserner Selbstdisziplin und kontrolliertem Wahn. Sein Repertoire an Erzählbarem scheint schier unerschöpflich, Improvisation ist sein Element - und er versteht es, zu unterhalten, sich mit dir über ihn zu unterhalten. (Was ist es schon für eine Kunst, sich selbst für wichtig zu nehmen; wahre Kunst ist, sich selbst nicht mehr wichtig zu nehmen - d.S.)

Wie wär's mit einer kleinen „fucking horror story“ frisch aus dem lieblosen Leben erzählt oder einer schmutzigen Gute -Nacht-Geschichte für schlaflos Masturbierende? Oder wie war das noch mal mit den Kids, die einen Heidenspaß hatten, aus ihrem Chevy heraus wahllos Leute abzuknallen - oder der Alte, der seine Frau verprügelt und gröhlt „that's no woman, that's my wife“? Rollins ist nicht negativ. Er wühlt nicht in der Scheiße, weil sie schön stinkt, sondern weil man selbst anfängt zu stinken, wenn man irgendwann die Scheiße nicht mehr riecht - und dann steckt man bereits selbst tief drin. Zynismus ist nicht sein Ding, er mißtraut der Leere dahinter ebenso wie der Lehre des salbungsvollen Moralisierens. Keine Ratschläge von wegen „werdet so, wie ich bin“, statt dessen Klartext „I've got my own torture I am gonna do!“ Aber wer es nicht lassen kann, sich selbst fertig zu machen, der sollte gefälligst aufhören, groß daran zu leiden: „Stop being a victim! Stop running around putting your pain on someone's other flesh. Fight it by being yourself.“ Das ist Rollins Kampf, seine Abhängigkeit davon: der Kampf, unabhängig, sich selbst zu sein.

Aber Rollins hat noch jemanden mitgebracht. Name: Selby, Hubert, 61 Jahre alt. Besondere Kennzeichen: der wohl bedeutendste lebende amerikanische Schriftsteller der Gegenwart. Einer, den die Kulturmaschine vielleicht für tot erklären mag, der aber immer überleben wird, weil kaum einer, der sich einmal an seinen Büchern die Haut verbrannt hat, ihn vergessen wird. Last Exit to Brooklyn... The Demon... Requiem for a Dream... The Room: vier Romane, die eines gemeinsam haben: wenn man sie aufschlägt und anfängt darin zu lesen, dann ist man in der Hölle eingeschlossen bis zum letzten bitteren Wort. Und obwohl man froh ist, sie dann unbeschadet durchgestanden zu haben, stellt sich kein Gefühl der Erleichterung ein. Was bleibt, ist eine dumpfe Beklommenheit, eine gräßliche Ahnung, daß nichts vorbei ist

-gerade weil Selbys literarische Höllenszenarien von dieser Welt blanker Terror sind, darf es kein Ende davon geben.

Was ich bei seinen 'geschriebenen‘ Texten immer noch nicht zu fassen kriege, ist die Lust abzutauchen, in sein Inferno der Gewalt und Perversion, der Verzweiflung, Gier, der Triebe und Sexualität, Besessenheit und Brutalität. Mit Sado -Masochismus hat das nichts zu tun. Es ist das Schonungslose, die aus den Seelen seiner Figuren gepeitschte rohe Sprache, die verletzende Direktheit, mit der Selby die Formen menschenmöglicher Selbstzerstörung registriert.

Ein lustvoll guter, ehrlicher Fick? Selbst lesen macht's möglich, weil sein Anprangern kaputter Sexualität sich elend tief ins Gefühl einbrennt und Spuren hinterläßt, die selbst durchlebten Erfahrungen gleichen. Gescheiterter als bei Selby ist Existieren kaum noch vorstellbar. Er selbst hat genug durchgemacht: Tuberkulose, Junk, Alk. (Was heißt das schon: so ist es Tausenden ergangen; aber aus seiner eigenen Scheiße Geld zu machen, indem man herausschreit, wozu andere zu verklemmt sind, zeugt weder von Genius noch von literarischer Größe - d.S.)

Und noch mehr davon hat er mitbekommen, dort, wo er den Großteil seines Lebens verbracht hat, in Brooklyn, New York. Last Exit to Brooklyn ist keine Erfindung von ihm gewesen. Wegen Obszönität war sein Buch in England zeitweise verboten, weil es um so schlimmer ist, daß Leute, die so dreckig daherreden und so übel zugrundegehen, keine Kopfgeburten eines gestörten Geistes sind. Rollins und den Veranstaltern von „Scumbox 3“ sei's gedankt, daß sie ihn mitgebracht haben.

DOA

Rollins und Selby heute abend um 21 Uhr im Quartier Latin zusammen mit Caspar Brötzmann. Selbys Bücher sind bei Rowohlt erschienen, „Henry Rollins Talks“ ist bei der Action -Press, Zürich, erhältlich.