Rechte Wut und linke Lähmung

Linkes Abwarteverhalten als Gefahr für die Koalition  ■ K O M M E N T A R

Wenn die rot-grüne Koalition so regieren soll, wie sie angefangen hat, dann rennt sie in ein schnelles und trübes Ende. Wer richtig zu lesen versteht, der wird wissen, daß die Koalitionsvereinbarungen die gesamten - leider gewachsenen politischen Strukturen in dieser Stadt, die ganze beamtete Kohabitation von Filz und Sumpf herausfordern. Es wächst die Skepsis, und der Kreis von Vorabkritik und Denunziation schließt sich. Hassemer ist noch nett, wenn er meint, das Kulturprogramm rieche nach „Magermilch und Knäckebrot“. Der Deutsche Industrie- und Handelstag sieht den Wirtschaftsstandort Berlin in Gefahr, die Industrie spricht vom Zurückstellen von Investitionen. Der stellvertretende DGB-Vorsitzende Fehrenbach spricht vom „ungeheuren Risiko“ der Koalition. Momper schreibt Briefe nach allen Seiten, die SPD verteidigt die Koalition öffentlich. Was macht die AL? Sie leckt sich die Wunden der Koalitionsverhandlungen. Wo lebt diese Partei eigentlich? Im Niemandsland zwischen Nicaragua und Kreuzberg? Wo schlägt sie sich denn für diese Koalition, die jetzt ihre Koalition ist; wo nimmt sie die Aggressionen, Ängste, Verunsicherungen der Stadt auf? 59 Prozent wollen nach der jüngsten Umfrage Neuwahlen, aber die AL diskutiert im Mehringhof mit ihresgleichen darüber, wie schlimm die Koalitionsvereinbarungen im Bereich innere Sicherheit sind statt sich in die Höhle des Löwen zu begeben und sich mit der Polizei auseinanderzusetzen.

Aber das betrifft nicht nur die AL. Jetzt wird von FAZ, FDP bis Riesenhuber Sturm gelaufen gegen die Schließung der Akademie der Wissenschaften. Wo bleiben die linken Professoren, die die Schließung doch wollten? Sind sie alle schon im wohlverdienten Urlaub in der Toscana? Der Regierungsbeginn von Rot-Grün wird zu einem großen politischen Kräftemessen, zu einer Heerschau der Machtverhältnisse in dieser Stadt führen. Wenn die Linke nur zusehen will, ob ihr diese Regierung recht ist, dann haben sie ihre Zukunft schneller verspielt, als sie das Regierungsprogramm durcharbeiten können. Die Stadt, der Behördenapparat stehen auch auf der Kippe zwischen alten Vorurteilen und angstvoller Neugierde. Rot-Grün kann nicht gegen die Stadt und auch nicht gegen eine Massenmobilisierung für Neuwahlen anregieren. Es wird Zeit, daß die Linke kämpft, nicht nur mit ihren Linkshabern, sondern mit der Wirklichkeit.

Klaus Hartung