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Noch Hoffnung für Exiltibeter?

■ Seit dem Auszug des Dalai Lama aus Lhasa sehnen sich 80.000 Tibeter in Nordindien nach Autonomie

Von der Furcht vieler Tibeter vor weiteren Verhaftungen und Vergeltungsaktionen der Chinesen haben gestern 140 aus Lhasa ausgewiesene Touristen berichtet. Mehrere Reisende warfen den Sicherheitskräften vor, während der Unruhen ohne Maß und unterschiedslos in die Menschenmenge geschossen zu haben, und kündigten einen Brief an die Vereinten Nationen an. Drei ausländische Geschäftsleute mit langjähriger Tibet -Erfahrung berichteten nach Angaben der französischen Nachrichtenagentur 'afp‘, daß 500 bis 800 Menschen bei den Straßenschlachten in Lhasa von Sonntag bis Dienstag getötet worden seien. Sie beriefen sich auf übereinstimmende Angaben aus tibetischen Quellen. Amtlichen chinesischen Berichten zufolge, die von zwölf Toten und hundert Verletzten sprechen, ist es in Lhasa seit der Verhängung des Ausnahmezustands ruhig. Offiziell werden Exiltibeter direkt für die Unruhen verantwortlich gemacht. Tibetische Separatisten seien als Touristen nach Tibet gereist, um den Aufstand vorzubereiten, hieß es in einem Kommentar der amtlichen Nachrichtenagentur 'Neues China‘. In Neu-Delhi hielt der Dalai Lama, das im Exil lebende geistige Oberhaupt der Tibeter, unterdessen daran fest, keine Steigerung der Repression, „und sei sie noch so brutal und gewalttätig“, könne die Unabhängigkeitsbestrebungen der Tibeter ersticken. Heute jährt sich der blutig niedergeschlagene Aufstand der Tibeter gegen die chinesische Oberhoheit zum 30. Mal.

Neu-Delhi (taz) - Schreie und wütender Tumult vor der chinesischen Botschaft in Neu-Delhi. Nach dem Tod des Panchen Lama im Januar 1989 beschimpfen junge Exiltibeter das chinesische Regime und fordern Freiheit und Menschenrechte für Tibet. Eine junge Frau heftet hastig Plakate an die Botschaftsmauer: „Tibets Unabhängigkeit ist Indiens Schutz!“ Dann wird sie festgenommen. Indiens Solidarität mit unterdrückten Völkern hat seine Grenzen.

Vor genau 30 Jahren erhob sich in der tibetischen Hauptstadt Lhasa zum ersten Mal das Volk gegen die chinesischen Besatzer. Nach zehn Jahren Knechtschaft, Guerillakämpfen in der Provinz und schließlich dem Versuch des chinesischen Militärs, den Dalai Lama gefangenzunehmen, hatte die buddhistische Geduld ein Ende. Tibeter, darunter auch Mönche, bewaffneten sich und stürmten die chinesischen Kasernen am Rande der Stadt. Tagelang hallte Lhasa von Schüssen und Schreien wider, bis die Bomben der chinesischen Luftwaffe den Aufstand erstickten.

Der Dalai Lama und ein Teil seines Hofes aber waren entkommen. In wilder Flucht strebten er und unzählige andere Tibeter den Himalayabergen, der Grenze nach Indien zu. „Alles, was wir bei uns hatten, war ein bißchen Mehl, das wir mit Schnee mischten und aßen. Viele blieben erschöpft im hohen Schnee liegen und sind erfroren“, erinnert sich der Mönch Ngawang Tenpa. Etwa 100.000 Tibeter erreichten das Exil. Wie viele unterwegs starben, ist nicht bekannt.

Mehr als 100.000 Tibeter haben heute in Kanada, den USA, Großbritannien, der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland Asyl gefunden. Die größte Gruppe tibetischer Flüchtlinge, etwa 80.000, lebt in Indien, Nepal und Bhutan. Ob in Delhi, Bombay oder Kalkutta - tibetische Händler gehören seit langem zum Straßenbild indischer Großstädte. Nach dem Exodus im Jahr 1959 hatte die indische Regierung Brachland im Himalaya und in den südindischen Bergen zur Verfügung gestellt.

Sehnsucht nach Selbstbestimmung

Mehr als 14 nervenzermürbende Stunden dauert die Autobusfahrt von Delhi nach Dharamsala. Unterwegs freunde ich mich mit einigen Tibetern an, die von einer Geschäftsreise zurückkehren. Die meisten Inder seien arrogant und hinterlistig, klagen sie. Einerseits habe die indische Regierung ihnen großzügige Hilfe bei der Wiederansiedlung gewährt, andererseits aber unterbinde sie jede politische Betätigung.

Dharamsala, ein kleines Städtchen in den Vorbergen des Himalaya, ist die tibetische Exilhauptstadt. Der Ortsteil McLeod-Ganj, von schneeweißen Bergriesen überragt, spiegelt Lebensart und Kultur des tibetischen Volkes wider. Mönche flanieren, Gebetsmühlen drehend, durch die Straßen, tibetische Restaurants und Souvenirläden säumen die Gassen. Die Exilgemeinde verfügt über Schulen, Handwerkskooperativen, ein Kulturzentrum sowie ein Institut für tibetische Medizin. Etwas abseits liegt die von indischen Zivilpolizisten scharfbewachte Residenz des Dalai Lama. In Dharamsala tagt auch das tibetische Exilparlament. Hier laufen die Fäden der Verwaltungen aller Exilgemeinden zusammen.

Die traditionelle, von feudalen und theokratischen Strukturen geprägte tibetische Gesellschaft hat im Exil demokratische Reformen erfahren. Das Monopol der Lamas auf Erziehung und Verwaltung, das im alten Tibet Ausbeutung und Willkür förderte, ist gebrochen. Heute berät eine gewählte Deputiertenversammlung, der Mönche und Laien angehören, die Exilregierung des Dalai Lama. Außerhalb Tibets konnte die kulturelle Tradition überleben, während die chinesische Kulturrevolution Tibets Tempel und Klöster zerstörte. Dennoch brennt gerade unter den jungen Leuten, die ihre Heimat nie gesehen haben, die Sehnsucht nach Selbstbestimmung und Rückkehr. „Wie alle Tibeter habe auch ich eine starke Sehnsucht, in die Heimat zurückzukehren. Als ein buddhistischer Mönch aber bin ich es gewohnt, Sehnsüchte und Bedürfnisse zu überwinden“, äußert sich diplomatisch der Dalai Lama.

Gandhi reist nach China

Im Dezember 1988 reiste der indische Premierminister Rajiv Gandhi zum Staatsbesuch nach Peking - die erste Visite, seit beide Länder 1962 im Himalaya Krieg führten. Die indische Presse wertete den Besuch als einen Durchbruch in den seit langem festgefahrenen Beziehungen. In Neu-Delhi aber protestierten Exiltibeter gegen Gandhi. Dieser hatte seinem Gastgeber versichert, Indien werde sich nicht in die inneren Angelegenheiten Chinas einmischen und keinesfalls zulassen, daß von indischem Boden aus Politik gegen China gemacht werde. In dem Bemühen, durch außenpolitische Erfolge sein ramponiertes innen politisches Image aufzubessern, spielte Gandhi die Tibetfrage als internes Problem Chinas herunter.

Dennoch ist das Tibetproblem unmittelbar mit den Feindseligkeiten zwischen den beiden bevölkerungsreichsten Ländern der Erde verknüpft. Hauptstreitpunkt zwischen Indien und China nämlich ist die von britischen Kolonialbeamten gezogene Grenze zwischen Indien und Tibet. Die beiden Nachbarn waren mit der sogenannten „McMahon-Line“ einverstanden, nicht aber China, das seit der Besetzung Tibets 1949 auf den höchsten Bergen der Welt das Sagen hat.

Der Versuch, die Chinesen auf militärischem Wege zur Respektierung der Grenzlinie zu zwingen, endete 1962 mit einer vernichtenden Niederlage für Indien. Nachdem nun auch der Dalai Lama die Herrschaft Chinas über Tibet prinzipiell anerkannt hat, ist eine friedliche Beilegung des Grenzstreites möglich geworden.

Die Vorschläge des Dalai Lama für eine autonome Friedenszone sind vorerst zerschlagen. Dabei kam er den Chinesen im vergangenen Jahr noch entgegen: Peking sollte Tibets Außenpolitik übernehmen und zunächst auch die militärische Präsenz in Tibet aufrechterhalten können.

Rainer Hörig

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