Utopie und Biederkeit

■ Im Koalitionsprogramm steckt jede Menge Konfliktstoff

Das 150 Seiten starke Koalitionsprogramm wird kein geduldiges Papier bleiben, selbst wenn Horst Wagner im Namen der vierrädrigen Auto-Kentauren des Proletariats schöne neue Verkehrsutopie verschleppt. Dieses Programm wird das künftige Textbuch von linken und rechten Bürgerinitiativen und den vielfältigen Lobbys vor allem aus dem alternativen Lager werden. Viele Punkte werden in ihrer Sprengkraft unterschätzt. Beispielsweise wird der Rückbau an den Seeufern, das heißt freie Seeuferwege gefordert. Dieses Vorhaben wird die unzähligen Sportvereine mit ihren privilegierten Seegrundstücken mobil machen. Oder: Die Absicht des Senats, West-Berliner Bürger bei der Wahrnehmung ihrer subjektiven Rechte gegenüber den Alliierten finanziell zu unterstützen und ihnen bei der Suche nach den gesetzlichen Richtern zu helfen, wird unvermeidlich in den notwendigen Streit mit den Alliierten hineinführen. Diese Absichtserklärung besagt nämlich, daß der Senat sich direkt gegen die Alliierten engagiert und ihnen eine Prozeßwelle ins Haus leitet. Bei vielen formell schwammigen Formulierungen ist der harte Kern für die Betroffenen unübersehbar. Wenn im Teil „Innere Sicherheit“ die Überprüfung der „Führungsstruktur“ der Polizei angekündigt wird, dann weiß man in der Stadt, um welche Amtssessel es aus welchen Gründen geht. Die AL unterschätzt den Verhandlungserfolg in diesem Bereich: Zwar wird vage die Eingrenzung des „Extremismusbereichs“ als „auf das enge Maß zu beschränken, das sachlich unabweisbar ist“, definiert. Doch die vorgesehene parlamentarische Kontrolle geht gegenüber allen anderen Bundesländern am weitesten.

Viele utopische Ziele werden im Programm im Grunde als Prüfungsaufträge und Bundesratsinitiativen ausgeklammert. Für die ganze angedeutete Flut von Gesetzesvorhaben für das Reformwerk gibt es überhaupt noch nicht die Behörden, die das Arbeitsvolumen bewältigen sollen. Momper hat gestern schon vorsichtshalber von einem Regierungsprogramm von zwei Legislaturperioden gesprochen. Deutlicher noch ist, daß viele Programmteile nicht nur mit heißer Nadel, sondern auch mit wenig Erfahrung und Behördenkenntnis zusammengestrickt sind.

Im KiTa-Bereich wird umfangreich die Integration von behinderten Kindern gefordert. Unmittelbare und unbürokratische Wirkung hätte es gehabt, wenn die Eltern von behinderten Kindern neben alleinstehenden Frauen auf den ersten Platz der Dringlichkeitsliste für KiTa-Plätze gesetzt worden wären. Solche Beispiele gibt es viele. Beim Teil Mieten und Wohnen - abgesehen vom Mieterschutz, der nicht prozeßstabil formuliert ist, und abgesehen vom kaum realisierbaren Neubauprogramm - wird zum Beispiel die „Instandhaltungsverpflichtung“ der Vermieter verschärft kodifiziert und ein „Gebäude-TÜV“ verlangt. Gut und richtig. Aber es wird eine Prüfungsverpflichtung festgeschrieben, die wiederum eine riesige Bürokratie verlangt. Und hätte man sie - man wird sie nicht haben -, wäre die Kontrolle noch keineswegs garantiert. Aber diese Art von Lektüre wird noch monatelang anhalten, und die CDU und Wirtschaft werden laut mitzählen.

Die Kulturpolitik ist bislang nur von der scheidenden Regierung thematisiert worden. Dort hat sich die AL als Ausstiegspartei aus der „Hochkultur“ durchgesetzt. Das Deutsche Historische Museum liegt erst einmal im Schneewittchen-Sarg und die Akademie der Wissenschaften ist gestrichen. Der Vorwurf, damit würde der Ost-West-Dialog gefährdet, ist natürlich hanebüchen. Aber stimmt Hassemers Kritik, daß das Kulturprogramm nach „Magermilch und Knäckebrot“ schmeckt?

Ich finde, ja. Der Kultur unter Hassemer kann man vieles vorwerfen - Opportunismus gegenüber Karajan und anderen Profitvirtuosen beispielsweise -, aber er war wirklich ein fördernder Senator, dem es gerade gelang, den elitären Anspruch der Avantgarde unter die Leute zu bringen. Er vor allem hat die Berliner zu Touristen ihrer eigenen Stadt gemacht. Daß die Neuköllner davon nichts mitbekommen haben, steht auf einem anderen Blatt. Wie sieht das SPD/AL-Programm aus? Kein Glanz, weder postmodern noch irgendwie sonst, dafür eine Epidemie des Wortes dezentral. Stadtteilorientierung, bezirkliche Kulturzentren, Schwerpunkt Jugendkulturarbeit, Seniorenkulturarbeit, Musikschulen. Richtig, alles Defizite. Die Bezirke sind vernachlässigt. Aber kann eine Metropole flächendeckend kulturelle Produktivität von Kunst verordnen? Nein, dieses Programm läutet die Stunde der Kunstpädagogik ein, und das ist für eine Metropole zuwenig.

Zwar wird in ein paar müden Parolen der Ost-West-Dialog gewünscht, aber kein Wort von der kulturellen Herausforderung, die inzwischen aus dem Osten kommt. Im deutschlandpolitischen Teil findet man den Nord-Süd-Dialog auch wichtiger, der im wesentlichen in einer Senatspartnerschaft mit Nicaragua besteht. Begrüßenswert der Wunsch, die Ausstellung „Topographie des Terrors“ weiterzuentwickeln und das Projekt des Mahnmals für die ermordeten Juden zu fördern. Aber auch hier zuviel Pädagogik, zuwenig Lust an der Auseinandersetzung und zuwenig Zielvorstellung, was die ehemalige Terrorhauptstadt Europas an Forschungsstätten und Museen eigentlich braucht.

Klaus Hartung