Kein Sekt für die AL - nur noch Arbeiterbrause

Die Vollversammlung gab ihren Segen für eine rot-grüne Koalition / Fundis plädierten für Tolerierung / Ökosozialisten attackierten reformistisches Politikverständnis / Schwierige Personaldebatte nach harmonischem Koalitionsvotum  ■  Aus Berlin Brigitte Fehrle

„Wer weiß, wann uns dieser Jubel mal schrill in den Ohren klingt.“ Der AL-Staatssekretär beim Senator für Schule und Sport in spe, Hans-Jürgen Kuhn, sagt, was viele am Samstag abend dachten. Nach sechsstündiger sehr kontroverser Debatte entschieden sich mehr als 80 Prozent der etwa 1.000 anwesenden Mitglieder der Berliner Alternativen Liste für eine „Koalition mit der SPD für eine möglichst lange Dauer“. Der minutenlange erleichterte Beifall, den sich die Delegierten selbst zollten, war überschattet von einer Personaldebatte über die Senatsressorts. Sie war fast ausschließliches Thema am Rande. Das nahezu einmütige Ja zur Koalition mit der Sozialdemokratie stand in merkwürdigem Kontrast zur vorausgegangenen Diskussion. Nach einer Rede von Christian Ströbele, der für die Verhandlungskommission das Ergebnis der Sach- und Ressortverhandlungen vorstellte, bewertete und der Mitgliedervollversammlung (MVV) die Koalition empfahl, meldeten sich überwiegend Koalitionsgegner zu Wort. Häufigster Kritikpunkt: das Wirtschaftsprogramm der rot-grünen Koalition. Die Sozialdemokraten hätten sich an diesem Punkt keinen Millimeter bewegt. Weder die Novellierung des Berlinförderungsgesetz - über das die Berliner Industrie indirekt in Milliardenhöhe subventioniert wird - noch die Vorschläge zur Berufsbildungsabgabe seien von der SPD auch nur erwogen worden. „Keine Irritation der Wirtschaft“, hatte SPD-Chef Momper kategorisch erklärt. Für den Verhandler Benny Guttmann Grund, die AL in die Opposition zu wünschen. Sekt oder Selters war seine Option gleich nach der Wahl gewesen, Koalition oder Tolerierung, jetzt sei bloß „Arbeiterbrause“ daraus geworden.

Die Verhandlungskommission war uneinig in ihrer Empfehlung an die MVV über die Form der Zusammenarbeit mit der SPD. Birgit Arkenstette und Harald Wolf - beide Tolerierungsbefürworter - warfen in ihrem Minderheitenvotum Ströbele vor, demagogisch argumentiert zu haben, als er die erfolgreiche Verhandlungsführung begründete und vor allem für den Bereich Umwelt und Frauen von einer „ungeheuer faszinierenden Möglichkeit, neue Politik zu machen“, gesprochen hatte. Die Argumentation Ströbeles für eine Koalition reduziere sich angesichts des Verhandlungsergebnisses beim Sachprogramm auf die Feststellung, daß die AL-SenatorInnen die Politik der SPD besser umsetzen könnten. Wolf plädierte auf Tolerierung als das „günstigere und langfristig stabilere“ Bündnis. Bei der Abstimmung enthielten sich Wolf und Arkenstette um zu zeigen, daß der Igel auch in Zukunft „nach innen widerborstig“ sein könne.

Während der mehrstündigen Generaldebatte wurde Kritik am Verhandlungsergebnis meist von Lobbyisten geübt. Nie wollte die Alternative Liste, so wurde es zu Gründungszeiten diskutiert, Politikfelder gegeneinander ausspielen. Davon Abschied zu nehmen, fällt offenbar schwer. Ökosozialist Wolfgang Bott kritisierte die Verhandlungskommission: „Jetzt haben wir zwar unsere Busspuren bekommen, dafür die Stromtrasse nach Westdeutschland in Kauf genommen.“

Zwei Anträge lagen den Delegierten vor, in denen der enorme Zeitdruck, unter dem die Verhandlungen standen, kritisiert wurde. Die Forderung lautete „Nachverhandlung“. „Mit wem?“ fragte ein Delegierter am Rande, „die SPD will nicht mehr verhandeln.“ Neben den Vereinbarungen zum Bereich Wirtschaft, Wohnen und Soziales wurde von den „Nachverhandlern“ der sogenannte „Knebelvertrag“ kritisiert, die Koalitionsvereinbarung, die die Zusammenarbeit und das Maß der Eigenständigkeit der Fraktionen regelt. Eine „maßlose Anpassung“ an die SPD sei die Vereinbarung, die die AL zwinge, nahezu alle parlamentarischen Initiativen in einem Koalitionsausschuß mit der SPD abzusprechen. Heftige Gegenrede. Man solle mit seinen Forderungen nicht nur vom „alternativen Mikrokosmos“ ausgehen, sondern die gesellschaftliche Akzeptanz von Positionen berücksichtigen. Auch die neue Vizepräsidentin des Abgeordnetenhauses, Hilde Schramm, sprach sich gegen erneute Verhandlungen aus. Der alte Senat versuche in allen Verwaltungen, noch schnell Leute zu befördern und Sachentscheidungen zu treffen, die nachher die Handlungsmöglichkeiten des rot-grünen Senats einschränkten. Dieter Kunzelmann, der dafür plädierte, die Entscheidungen und damit die Wahl der neuen Regierung auf nach Ostern zu verschieben, ließ diese Argumentation nicht gelten. „Uns hat immer ein langer Atem ausgezeichnet“, schrie er vom Rednerpult. „Wenn wir jetzt schon unser Rückgrat aufgeben, dann tun wir es in den nächsten vier Jahren erst recht.“ Doch die Mehrzahl der Delegierten wollte die inhaltliche Aussprache über das Verhandlungspapier, das erst am Tag zuvor vollständig vorgelegen hatte, nicht fortsetzen.

Den sozialdemokratischen Beobachtern der AL-Versammlung wurde angesichts von so viel Skepsis und heftiger Kritik am Verhandlungsergebnis ganz mulmig. Am Ende Erleichterung beim zukünftigen SPD-Bausenator Nagel und männlich derbes Schulterklopfen mit AL-Bauverhandler Härtig. Nagel zum Ergebnis: „Jetzt kann endlich Politik gemacht werden.“

Doch mit wem? Alle WunschkandidatInnen der AL für die Senatorenposten sagten in den letzten Tagen ab. Rechtsanwalt Reiner Geulen, ausgestattet mit internationalem Renommee, vorgesehen als Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz, besann sich in letzter Minute auf seine Kanzlei. Für das Amt der SchulsenatorIn gibt es gleich drei AnwärterInnen. Die stellvertretende GEW-Vorsitzende Sibylle Volkholz, die Professorin Jutta Schöler und Ulf Preuss -Lausitz, Erziehungswissenschaftler und AL-Aktivist. Doch den bittersten Streit gab es ausgerechnet um das Amt der Senatorin für Frauen, Jugend und Familie, um das die AL so heftig gerungen hatte. Nachdem die Kandidatinnensuche unter renomierten Wissenschaftlerinnen erfolglos geblieben war, meldeten sich in der letzten Woche zwei Frauen aus der autonomen Frauenbewegung zu Wort. Anne Klein, Feministin und Rechtswältin, und Hannelore May, Mitarbeiterin in einem Kreuzberger Jugendprojekt. Sie bekamen vom Frauenbereich der Liste noch am Freitag abend das Votum zu kandidieren. Abgewiesen wurden Claudia von Braunmühl, „Dritte-Welt„ -Politikerin und Mitbegründerin des Netzwerks sowie Jutta Bahr-Jendges, Bremer Fachanwältin für Jugend- und Familienrecht. Der Grund: Es gebe genug Berliner Feministinnen.