Rauchzeichen

Weizsäcker begnadigt Angelika Speitel  ■ K O M M E N T A R

Der Bundespräsident macht einmal mehr Politik mit Rauchzeichen. Nicht die Tatsache der Begnadigung Angelika Speitels ist das Signal - daß dieser Schritt bevorstand, war seit langem klar -, sondern der Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung. Erster Adressat der präsidialen Rauchzeichen ist eine Öffentlichkeit, die in den kommenden Wochen mit der dramatischen Zuspitzung des Hungerstreiks der politischen Gefangenen konfrontiert sein wird. Für eine Lebensperspektive außerhalb der Trakte, so die Botschaft, muß niemand sein Leben in die Waagschale werfen. Wer sich vom bewaffneten Kampf öffentlich abwendet, wie Angelika Speitel, hat gute Chancen nach zwölf (!) Jahren seine Freiheit wiederzuerlangen.

Weizsäcker wendet sich aber auch in eine andere Richtung. Gegenüber den Justizministern und den Verantwortlichen des Sicherheitsapparats, die seit fast sechs Wochen in vollständiger Starrheit verharren und damit eine dramatische Zuspitzung des Hungerstreiks und die Gefahr neuer Anschläge provozieren, demonstriert der Bundespräsident Beweglichkeit. Die Begnadigung Angelika Speitels ist also auch eine allerdings arg verschlüsselte Aufforderung an die Justizminister, endlich auf die neuen Töne in der Hungerstreik-Erklärung zu reagieren und ihren ideologischen Bunker zu verlassen.

Für die Gefangenen selbst ist Weizsäckers Gnadenakt eine Provokation. Mit ihrem Hungerstreik demonstrieren sie ja gerade, daß der Weg von Angelika Speitel wie jede individuelle Lösung für sie nicht in Frage kommt. Vielmehr beanspruchen sie für sich, was für jede sich politisch verstehende Gruppierung außerhalb der Knäste selbstverständlich ist: die Möglichkeit, politische Mittel und Ziele gemeinsam zu diskutieren und wenn nötig veränderten Realitäten anzupassen.

Fern jeder aktuellen Symbolik haben Weizsäckers Begnadigung Speitels und die Verweigerung gegenüber Peter-Jürgen Boock noch einen anderen, gleichermaßen grausigen wie kleinkarierten Aspekt: Der Bundespräsident hat entschieden, daß zwölf Jahre genug sein können, neun aber nicht unabhängig von der Glaubwürdigkeit der Abkehr vom bewaffneten Kampf. Und er hat entschieden, daß Angelika Speitel noch über ein Jahr absitzen muß.

Gerd Rosenkranz