„Ein Karneval von großer Bedeutung“

Der Philosophiedozent Michail Maljutin vom Moskauer Wissenschaftlerklub „Demokratische Perestroika“ schaffte es nicht, sich nominieren zu lassen  ■ I N T E R V I E W

taz: Welche Rolle spielten die Wahlkommissionen, die die Bezirksversammlungen zur Kandidatennominierung einberiefen?

Michail Maljutin: Ich kann da von der Bezirkswahlversammlung erzählen, auf der ich selbst als Kandidat auftrat. Da war sowieso alles von vornherein klar, weil der größte Teil der Teilnehmer aus den Arbeitskollektiven dieses Bezirks kam. Meistens die Chefs dieser Kollektive. Es reicht zu bemerken, daß der erste Sekretär des Bezirkskomitees und ein Mitglied des Parteibezirkskomitees eine absolut gleiche Anzahl von Stimmen bekamen.

Das heißt, Sie hatten keine Chance?

Von allen „unabhängigen“ Kandidaten aus Moskau oder Leningrad ist überhaupt nur ein einziger Mann auf solch einer Versammlung durchgekommen: nämlich der Historiker Sergej Stankewitsch aus dem hiesigen Bezirk Tscherjomyschki

-einer der Kandidaten der Moskauer Volksfront. Er hat allerdings auch einen besonders professionellen Wahlkampf geführt.

Aber der Historiker Roj Medwedjew, der die antistalinistische Organisation „Memorial“ vertritt, ist doch ebenfalls als Unabhängiger nominiert worden.

Das ist eine Geschichte für sich, denn in fünf von 26 Moskauer Wahlkreisen ist es uns gelungen, die Mechanik der Bezirksversammlungen zu zerschlagen und einfach alle aufgestellten Kandidaten - ohne Vor auswahl - registrieren zu lassen.

Wie konnte man so etwas formal durchsetzen?

Ganz einfach - im Gesetz heißt es, daß Bezirksversammlungen durchgeführt werden können, aber nicht müssen.

Daß in verschiedenen Bezirken völlig verschiedene Verfahren der Kandidatenaufstellung angewandt wurden, hat offenbar zur Nominierung einzelner Kandiaten in einer Unzahl von Wahlkreisen geführt.

Deshalb bezeichne ich diese Wahlen auch als Karneval. Nehmen wir einmal Boris Jelzin: Anfangs hatten ihn - nur! zehn von 26 Moskauer Wahlkreisen aufgestellt. Und dazu auch noch der Gesamtmoskauer national-territoriale Wahlkreis. Wenn er jetzt dort kandidiert, ist dies für die übrigen Bezirke, von denen er aufgestellt wurde, mehr als ungünstig: Dort stehen manchmal nur noch seine Gegenkandidaten aus der „Nomenklatura“ zur Wahl. Andrej Sacharow hat in dieser Hinsicht eine genau entgegengesetzte Position eingenommen, indem er plötzlich sagte: Entweder kandidiere ich in der Akademie der Wissenschaften oder nirgends sonst!

War das Argument mit der Akademie nicht eher ein Vorwand für Sacharow, sich als Kandidat zurückzuziehen?

Nein, für ihn ist es jetzt wirklich das Hauptziel, der Akademie-Bürokratie einen entscheidenden Schlag zu versetzen und möglichst das Präsidium zu stürzen. Es ist ein Unikum in der Weltgeschichte der Demokratien, daß sich die 23 Mitglieder des Akademiepräsidiums selbst gewählt haben, obwohl eigentlich der Akademie 25 Mandate zustehen. Aber sie haben auf zwei verzichtet, um unter sich zu bleiben. Die Empörung in den wissenschaftlichen Instituten ist landesweit groß.

Wie wollen Sie weiter vorgehen?

Daß Stankewitsch durchgekommen ist, ist für uns außerordentlich wichtig, und wir werden jetzt all unsere Kräfte in diesem Bezirk konzentrieren. Natürlich werden wir auch Jelzin im Moskauer Nationalbezirk unterstützen, ebenso die Historiker Jurij Affanassjew und Roj Medwedjew, mit einem Wort: alle, von denen wir schon vorher erklärt haben, daß sie uns nahestehen.

Was erwarten Sie sich von der nächsten Wahletappe?

Ein autoritärer Staat wie unserer wird nicht zulassen, daß die Wahlen über ihre Funktion als Meinungsumfrage hinaus an Bedeutung gewinnen. Aber auch das ist doch schon eine ganz schöne Basis für unsere Agitation. Der bekannte Publizist Gavrijl Popov hat darauf hingewiesen, daß in der zaristischen Duma nur fünf Bolschewiki saßen, und die haben dafür dann doch allerhand erreicht!

Interview: BK