Honecker-Offerte und Mauerschüsse

SED-Chef Honecker bietet Berlins künftig Regierenden Momper Reiseerleichterungen, Grenzübergänge und Parlamentarierkontakte an / BRD-Politiker fahren nicht zur Leipziger Messe wegen Schüsse auf Flüchtlinge  ■  Von Claus Christian Malzahn

Berlin (taz) - Echte Freude über das Geburtstagsgeschenk von Erich Honecker an den designierten Chef der rot-grünen Koalition mochte sich am Wochenende in Berlin nicht recht einstellen: Ein schon am Samstag verbreiteter Bericht des heute erscheinenden 'Spiegel‘ wurde von anderen deutschlandpolitischen Nachrichten jäh konterkariert, nachdem der Staats- und Parteichef der DDR dem künftig Regierenden Bürgermeister Walter Momper Reiseerleichterungen, neue Grenzübergänge und Parlamentarierkontakte angeboten haben soll: Bundeswirtschaftsminister Haussmann hatte seinen Besuch auf der Leipziger Messe abgesagt, weil an der Berliner Mauer am Freitag zum wiederholten Mal innerhalb der letzten vier Wochen auf Flüchtlinge geschossen wurde.

Am 5.Februar war ein 20jähriger Ost-Berliner von DDR -Grenzsoldaten erschossen und sein Begleiter schwer verwundet worden. In der vergangenen Woche war der tragische Tod eines 32jährigen DDR-Bürgers beherrschendes Thema: Er hatte versucht, mit einem Ballon zu flüchten und war dabei aus vermutlich 3.000 Meter Höhe über West-Berlin abgestürzt. Am Freitag scheiterte erneut ein Fluchtversuch von drei Männern, einer von ihnen wurde angeschossen. Lapidarer Kommentar der DDR-Nachrichtenagentur 'adn‘: „Rowdies“ hätten die Grenzanlagen angegriffen und das Leben der Grenzsoldaten gefährdet. Während die Schüsse an der Mauer von westlicher Seite mit ritualisierter Kritik an den herrschenden Verhältnissen in der DDR beantwortet wurden, fällt Haussmanns Absage an Leipzig - und somit an das Symbol des „innerdeutschen Handels“ - nun unerwartet heftig aus. Die Bundesregierung schob eine Erklärung nach, nannte die Zwischenfälle eine „schwere Belastung für die Beziehungen„; Norbert Blüm flankierte die Absage des Wirtschaftsministers mit den Worten: „Man kann nicht mit dem Sektglas in der Hand Geschäfte feiern, wenn Menschen an der Mauer verbluten.“ Der baden-württembergische Wirtschaftsminister Martin Herzog, zur Zeit in Leipzig, ließ aus Protest ein für gestern verabredetes Treffen mit Honecker platzen. Sein Chef, der Ost-West-Wirtschaftstüftler Lothar Späth, schlug herbe Töne an: Angesichts der jüngsten Entwicklung sehe er „keine ausreichende Vertrauensbasis zur Führung offizieller Wirtschaftsgespräche“. Schließlich gab auch Walter Momper sein Statement ab: Die Situation an der Grenze sei „ganz einfach unerträglich“. Er wolle Honecker schnell kennenlernen und mit ihm über „die Möglichkeiten guter Nachbarschaft“ sprechen. NRW-Landesvater Rau absolvierte sein Programm in Leipzig dagegen wie vorgesehen, und völlig verwaisen lassen wollte die CDU die Messe aber auch nicht: Rainer Brüderle, Wirtschaftsminister aus Rheinland-Pfalz, latschte brav von Stand zu Stand und zeigte sich über Haussmanns Absage schlicht „betroffen“. Das Zittern der westdeutschen Handelsvertreter ob der tiefen politischen Verstimmung ließ in Leipzig erst merklich nach, als Erich Honecker am Wochenende wie geplant den bundesdeutschen Stand besuchte: Die Atmosphäre, so hieß es, sei „sachlich“ gewesen.