Die neue Eugenik ist unter uns

■ Gerda Freise: „Das Selbstverständnis von Frauen in Zeiten des humangenetischen und gentechnologischen Fortschritts“ / Woher kommt die Angst vor mißgebildeten Kindern?

Eine echte emeritierte Professorin und/oder ihr Thema interessierten 40 Frauen an diesem ersten Vormittag, der mit interessanten Parallelveranstaltungen gespickt war. Vom „Selbstverständis der Frauen“ sprach Gerda Freise dann nur insoweit, als sie die Frage aufwarf, wo auf einmal die ungeheure Angst der jüngeren Frauen vor mißbildeten Kindern herkomme. Sie, in den dreißiger Jahren auch eine sogenannte „Spätgebärende“, hätte die noch nicht gehabt, ihre jetzt 35 -jährige Tochter aber wohl. Ihr Referat ging aus von Rainer Hohlfelds Begriff von der Entwicklung der Biologie zur „Ingenieurkunst“, die die höchste Stufe der Beherrschung biologischer Phänomene mit deren Herstellung erreicht. Gerda Freise suchte ihn dreifach zu exemplifizeren: Beim § 218 stellt das Bundesverfassungsericht die eugenische Indikation außer Frage, schränkt aber die Indikationen ein, in denen die Frau selber Entscheidungsgründe finden muß. Und: Gerade Frauen sind bevorzugte Versuchspersonen für die biomedizinische Forschung von Antibabypille bis zur Repromedizin. Am ausführlichsten ging Gerda Freise schließlich auf den Zusammenhang zwischen alter und neuer Eugenik ein, wie

sich am deutlichsten in der prä-und perinatalen Diagnostik abzeichnet. Was die alte Eugenik als „genetischen Defekt“ diagnostizierte, den die Nazis dann mit

Massenmord ausgerottet hätten, suche die neue Eugenik schon in der Entstehung, schon vor der Geburt auszuschalten. Als eine Eugenik ohne Gewaltanwendung

zitierte Gerda Freise das Buch „Gegengifte“ von Ulrich Beck, deren VertreterInnen an keine Rassetheorien glauben müssen, „nichts sagen, nichts wissen, da die Technik selbst ebenso stumm wie effektiv die 'Verbesserung‘ des Lebens jenseits von ideologisch-sozialer Hysterie vollzieht“.

Gerda Freise schloß das Referat mit dem dringenden Plädoyer für eine aktive Auseinandersetzung mit den Implikationen von Biomedizin, Molekularbiologie und Humangenetik in allen allgemeinbildenden Institutionen. Nicht als Lehre, sondern als Auseinandersetzung. Sie selber plant, diese Auseinandersetzung in Göttingen im Schulunterricht zu installieren , so daß auch die Hauptschülerinnen bei Schulabschluß darauf vorbereitet sind, wenn man ihnen sagt, wann sie was abzutreiben haben. Was Gerda Freise so voraussieht.

Die Frage, woher die verstärkte Angst vor Mißbildungen kommt, griffen in der Diskussion viele Frauen auf. Eine Frau, die selber „Spätgebärende“ gewesen ist, sagte, im Gespräch mit den Ärzten sei ihr die Angst gekommen. Gegen Freises Bemerkung von den amniozentese-kritischen gebildeten Frauen hielt die Bremer Hochschullehrerin Dorothea Brockmann, daß die Unterschichtsfrauen nur schwer zu den Vorsorgeuntersuchungen zu

kriegen sind. Die grüne Bürgerschaftsabgeordnete Helga Trüpel fand, daß es gerade die Frauen „aus unserer Schicht“ seien, die zu einer Amniozentese/Abtreibung bereit sind: Ein behindertes Kind passe nicht in unsere fortschrittlichen Lebensmodelle, nicht zu anspruchsvollen Jobs. Daß sie außerdem nicht in die Krankenkassenlogik passen, belegte Dorothea Brockmann mit einem Beispiel aus Bremen: Eine Kasse hatte von einer Ärztin die Kosten für eine Geburt zurückverlangt, bei der ein mißgebildetes Kind entstanden war. Die Ärztin war in zweiter Instanz verurteilt worden, weil sie die Mutter nicht zu einer Amniozentese gezwungen hatte.

Uta Stolle