Vom Nachttisch geräumt: AUSCHWITZ

Friedrich Heers Bücher waren Bestseller, aber offenbar nicht in unserem Milieu. „Gottes erste Liebe“ z. B., sein achthundertseitiges Werk über die Geschichte des Judentums und seiner Verfolgung kennt keiner meiner Freunde und doch ist es eines der wichtigsten, weil eindrücklichsten Bücher zum Thema. Christoph Ransmayr überliefert in einem leider fast unbekannt gebliebenen, 1985 erschienenen Buch eine schöne Geschichte vom aufgeklärt-katholischen, kritisch -frommen Friedrich Heer: „'Politik‘, sagte Friedrich Heer, der Historiker Österreichs, sehr leise und machte eine längere Pause, bevor er weitersprach,... 'Politik ist der Umgang mit Verwundeten. Die Politik der Donaumonarchie hätte demnach ein behutsamer Umgang mit zutiefst verwundeten Völkern sein müssen.‘ Friedrich Heer war sehr abgemagert und blaß. Der Untertan saß ihm gegenüber, ein helles Zimmer, eine langgezogene Bücherwand, ein niedriger Tisch und zwei Fauteuils, und wagte nicht, sich eine Zigarette anzuzünden. 'Ich sitze hier mit meiner Endkrankheit‘, sagte der Historiker jetzt, 'ich lebe in diesem Zimmer von Bluttransfusion zu Bluttransfusion, und jedes Gespräch, das ich noch führen kann, ist Lebensmittel für mich. Der Zusammenbruch der Donaumonarchie, haben Sie gesagt? Hier gibt es für mich keinen Zweifel. Ich wurde als Untertan Kaiser Franz Josephs, des Herzogs von Auschwitz, geboren, und ich bin zu dem Schluß gekommen, daß dieser unselige Kaiser, dieser ungeheuerliche Diktator und in jeder Weise geistig und seelisch impotente, kleinwüchsige und lebensfeige Mensch, die durchaus umbaufähige Monarchie zugrunde gerichtet hat. Er hat es nicht verstanden, einen Ausgleich zwischen seinen verwundeten Völkern herbeizuführen; er war geblendet von jenem Deutschlandbild, das in Österreich durch die Jahrhunderte gewirkt hat und immer noch wirkt. Eine Imagination, verstehen Sie?, ein Bild, das es in der Wirklichkeit nie, nie gegeben hat. Der deutsche Bündnispartner war doch ebenso irreal wie das Deutschland der Dichter und Denker - ein Trugbild, eine Lüge, die innerhalb der Donaumonarchie nicht zuletzt zu einer Hierarchie der Nationalitäten geführt hat. Dieses Trugbild war ein wesentlicher Angelpunkt des Untergangs und hat schließlich bis zu Hitler und üpber ihn hinausgereicht. Aber das haben die Neandertaler, die mieseste und dumpfeste Reaktion, die nach 1945 hierzulande die Schulen und Universitäten übernommen haben, natürlich nie verstanden.“

Christoph Ransmayr (Hg), Im blinden Winkel - Nachrichten aus Mitteleuropa, Christian Brandstätter, 239 Seiten, 34 DM