NEUKÖLLNER NÖTIGUNG

■ Das Rixdorfmassaker in der Galerie „Das Dasein an sich“

„Hallo, ich bin Stefan, und ich fange jetzt mal einfach an.“ Mit diesen Worten versuchte sich ein goldhaargefärbter junger Dichter Gehör zu verschaffen, mitten unter einer Meute komischer Vögel, die sich aus unerklärlichen Gründen Neuköllner Nächte um die Ohren schlagen, und alles nur für die Kunst! Zum Großteil waren es natürlich die Dichter, die sich gegenseitig die Ideen klauten, ab und zu kam aber auch frisches Blut in die zwei kleinen Galerieräume in der Mainzer Straße. 24 Stunden lang sollte gelesen, performt und musiziert werden, und nach glaubwürdigen Zeugenaussagen wurde das von Samstag, 19 Uhr bis Sonntag, 19 Uhr auch durchgehalten.

Geladen hatten die Neuköllner Literaturoffensive und die Galeristen, entsprechend durchwachsen war das Angebot. Bevorzugtes Liebesobjekt der Amateurschreiblust scheinen die Abgründe des Sexuallebens zu sein, bevorzugter Tatort natürlich Berlin, undergroundmäßig. Zum Beispiel eine Horrorstory über Vergewaltigung und Belästigung in der U -Bahn, die mit dem Zusammenstoß zweier Züge unterm Wittenbergplatz endet. Ein zweites Werk des gleichen Autors wandelt auf den Spuren eines Kreuzberger Villons, beginnend mit den Zeilen: „Ein Segen, daß nach diesen Nächten / wo stets ein Bier das nächste gab / wir nicht in diesen kahlen Schächten / warten wie in einem Grab. / Die Sonne, unter der wir zechten, / beleuchtete den neuen Tag / und Hochbahngleise glänzten naß / im Morgenlicht wie grünes Gras.“

Natürlich ist der Schauplatz dieses „Pamphlets gegen Schwarzfahrer“ ebenfalls die BVG und spielt gegen fünf Uhr morgens am Görlitzer Bahnhof. Fast um die gleiche Zeit las Detlef Kranz im rasantem Tempo von einem Polizeioberwachtmeister, dessen Lollipop von Frauenhand miß bzw. gebraucht wird. Kastrationsängste auch bei Tibat, der seine abstruse Story mit beeindruckender professioneller Vehemenz vortrug. Drei Freundinnen stürzen sich auf ihren Studienrat Herrn Schöne, um ihn nebst Frau bis zum entkräfteten Ableben zu vergewaltigen.

In den frühen Morgenstunden hagelte es da abgehackte Hände und unbefriedigte Frauenlust, allein, die Frauen kamen erst um zehn, zu lesen. Da mir der Sinn tagelanger Lesungen ebensowenig wie tagelanger Acidhousekonzerte aufgeht, ging ich unquotiert, aber befriedigt nach Hause. Ausgelacht wurde keiner, manch tödliches Schweigen konnte schon mit dem nächsten Gedicht überwunden werden, und bevor frau sinnlos in den Kneipen Bier in sich reinschüttet, kann sie genausogut einen tiefen Schluck geronnener Alltagsphantasien zu sich nehmen. In diesem Sinne eine Veranstaltung mit Vorbildcharakter.

DoRoh