: Nicht mehr eine Frage der Moral
Italiens Parlament entscheidet heute über Reform des Sexualstrafrechts / Sexuelle Gewalt wird neu definiert / Trotz Abstrichen ist das Gesetz ein Erfolg für die Frau / Lange und intensive Diskussionen begleiten die Reform, die von der Frauenbewegung erkämpft wurde ■ Aus Rom Raffaela Menichini
Kein Zweifel: Noch haben Italiens konservative Gegner einer Reform des Sexualstrafrechts nicht all ihre Karten ausgespielt. Das Gesetzeswerk kann durchaus noch in der heutigen Endabstimmung im Abgeordnetenhaus vorläufig blockiert werden; außerdem muß auch der Senat noch einmal zustimmen.
Und dennoch: Auch wenn das Inkrafttreten des neuen Sexualstrafrechts noch einige Zeit hinausgeschoben werden sollte, eine Bilanz läßt sich bereits ziehen - und trotz der vielen Hindernisse und auch substanziellen Änderungen, die die Reform erfuhr, ist es eine überaus positive Bilanz. Positiv vor allem deshalb, weil hier erstmals in der italienischen Geschichte (und weithin einmalig in ganz Europa) ein ausschließlich von der Frauenbewegung über mehr als eineinhalb Jahre geführter Kampf zu einem für die Frauen alles in allem besseren Gesetz führte.
1979 hatten Italiens Frauen bereits als Konsequenz jahrelanger Diskussionen mehr als 300.000 Unterschriften für eine „Volksinitiative“ zur Reform des Sexualstrafrechts gesammelt. Daß es erst heute zur Verabschiedung des Gesetzes kommt, ist einerseits auf den massiven, teils aggressiven, teils hinhaltenden Widerstand der Konservativen aller Schattierungen zurückzuführen, von den Klerikalen bis zu den Neofaschisten. Doch die Verzögerung ist andererseits auch die Konsequenz einer reichen und konzentrierten Diskussion unter den Frauen selbst, die quer über die Parteigrenzen hinweg zur tiefen Auseinandersetzung über das eigene Selbstverständnis wurde.
Nur so war der nun nicht mehr eliminierbare Sieg über die bisherige „Philosophie“ des Staates (und der meisten Männer) in Sachen Sexualität möglich, wonach es sich dabei einerseits um eine Privatangelegenheit, andererseits um eine Sache der Moral handle. Straftaten wurden unter dem Aspekt des Schutzes der öffentlichen Ethik betrachtet (Mißbrauch von Kindern zum Beispiel nur dann bestraft, wenn es um „ein öffentliches Ärgernis“ ging), und bei Prozessen wurde zuallererst die „Moralität“ des Opfers untersucht. Neudefinition sexueller Gewalt
So stellt der Artikel 1 des neuen Gesetzes eine völlige Neuordnung der juristischen Behandlung sexueller Straftaten dar: Sexuelle Gewalt wird nicht mehr als „Vergehen gegen die Moral“, sondern ausschließlich als „Verbrechen gegen die Person“ eingestuft. Das ermöglichte auch in Artikel 2 die Einbeziehung herkömmlich keineswegs als Gewalttat eingestufter Handlungen - Exhibitionismus, Belästigungen (das berühmte „Popotätscheln“), ja schon auf Sex anspielende Beleidigungen. Daß es bei diesen Definitionsfragen zu breiten Mehrheiten kam, die noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wären, zeigt, welch unglaublichen Bewußtseinswandel die Frauen hier erzielt haben.
Die Kontroversen begannen freilich an dem Punkt, wo man die Konsequenzen aus diesen neuen Definitionen zu ziehen hatte. So wurde die Straffreiheitsgrenze für einverständliche sexuelle Beziehungen von Jugendlichen erst in Kampfabstimmungen neu bestimmt - hier setzten sich die Linken, verstärkt durch einige DissidentInnen aus dem Regierungslager, durch: Straffrei bleiben danach solche Beziehungen, wenn die Beteiligten mindestens 13 und noch nicht 18 sind; weiterhin werden sexuelle Handlungen von Volljährigen an Jugendlichen unter 14 Jahren verfolgt, auch wenn diese einverständlich sind; ebenso strafbar sind sexuelle Handlungen von Verwandten oder mit Erziehungsgewalt ausgestatteten Personen an Jugendlichen unter 16 Jahren (Strafrahmen zwischen drei und acht Jahren; wenn das Opfer noch unter zehn Jahre ist, von vier bis zehn Jahren).
Wichtig auch zwei weitere Neuerungen: Wird die sexuelle Gewalt von mehreren Personen begangen, so erhöht sich die Strafe auf vier bis zwölf Jahre Gefängnis, außerdem werden auch diejenigen als Vergewaltiger belangt, die dabei nur mithelfen (zum Beispiel das Opfer festhalten). Und: Auf Antrag der Grünen wird künftig auch bestraft, wer eine Vergewaltigung wahrnimmt, aber nicht einschreitet respektive die Polizei ruft. Wie das Opfer
am besten schützen?
Diejenigen Artikel freilich, die am Ende eine gewisse Depression bei einer Reihe der Gesetzesvorkämpferinnen auslösten, beziehen sich auf das neben der Definition zweite grundlegend wichtige Problem: die prozessuale Behandlung sexueller Gewalt und damit der Schutz des Opfers. Hier standen einander drei Konzepte gegenüber: 1. Jedes sexuelle Delikt wird von Amts wegen verfolgt, das heißt der Staatsanwalt verfolgt die Tat unabhängig davon, ob das Opfer selbst Anzeige erstattet. 2. Sexuelle Gewalt wird nur auf Antrag des Opfers (bei Minderjährigen: seiner Eltern) verfolgt. 3. Sexuelle Gewalt wird von Amts wegen verfolgt, mit Ausnahme sexueller Gewalt in der Ehe, wo nur auf Antrag des Opfers ein Verfahren eingeleitet wird.
Alle drei Vorgehensweisen haben ihre Begründungen: Die von Amts wegen (getragen vor allem von den KommunistInnen und einigen SozialistInnen) beruft sich auf den Schutz des Opfers, das sich oft aus Angst vor Repressalien keine Anzeige zu machen getraut - eine automatische Strafverfolgung (auch auf anonymen Hinweis) erspare dem Opfer möglicherweise diesen Druck. Die VertreterInnen der reinen Anzeige-Verfolgung (darunter mehrere Grüne) sehen dagegen in der Entscheidung, ob ein Verfahren eingeleitet wird oder nicht, ein unveräußerliches Recht des Opfers. Die dritte Position (Teilung in inner- und außerhalb der Ehe), vertreten vor allem von ChristdemokratInnen, beruft sich auf die nach einer automatischen Verfolgung wahrscheinlich unheilbare Ehe-Zerrüttung, die nicht unbedingt im Sinn des Opfers liege.
Die Gefahr von Repressionen gegen das Opfer sahen dabei alle drei Gruppen, und so war man sich grundsätzlich einig, daß bei allen Prozessen auch Frauenvereinigungen als Nebenklägerinnen zugelassen werden müssen, die dem Opfer zur Seite stehen. Völlig überraschend wurde dieser Artikel dann jedoch in geheimer Abstimmung nach einem Antrag der Neofaschisten gestrichen. Weil dadurch weder die reine Anzeige-Lösung noch die „gespaltene“ Version innerhalb/außerhalb der Ehe einen Schutz des Opfers gewährleistet hätte, entschied sich am Ende die Mehrheit doch für das Vorgehen von Amts wegen.
Fruchtbare Kontroversen
Die Abstimmung über diese Modalitäten waren im Parlament und in der Öffentlichkeit von einer unglaublichen Spannung bestimmt. Auch wenn sich am Ende bei ihrem „Sieg“ im prozessualen Bereich vor allem die kommunistischen Frauen in die Arme fielen, so belegte doch auch die überwiegend positive Reaktion aller anderen, daß mit diesem Marathon etwas Neues, bisher zumindest in diesem Parlament Ungekanntes eingetreten ist: Eine politische Diskussion hat gezeigt, daß sich eine so existenzielle Frage wie die Verfolgung und Strafbarkeit von sexueller Gewalt kontrovers diskutieren läßt, ohne daß es damit zur Schwächung und Herabwürdigung der davon Betroffenen kommen muß.
Die Debatte hat im Gegenteil, gerade weil die Kontroverse akzeptiert wurde, eine Bereicherung und Stärkung des politischen Selbstverständnisses der Frauen herbeigeführt. Vor allem deshalb, weil es ihnen gelungen war, das Thema nicht ein weiteres Mal denen abzutreten, die sonst entscheiden: den Männern.
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