„Die CDU braucht Mut für radikale Veränderungen“

■ Professor Günter Rohrmoser, Inhaber des Lehrstuhls für Sozialphilosophie an der Universität Hohenheim in Stuttgart und „kritischer Begleiter der Union“, zu den Konsequenzen der Wahlen von Berlin und Frankfurt für die CDU/CSU

taz: Nach Berlin gab es jetzt in Hessen die zweite verheerende Niederlage für die CDU. Würden Sie mir zustimmen: Die Union steht vor einer historischen Situation.

Prof. Günter Rohrmoser: Es gibt einige Anhaltspunkte, die tatsächlich dafür sprechen, der gegenwärtigen Situation einen historischen Charakter zuzuweisen. Wenn man die Ergebnisse von Berlin und Frankfurt analysiert, sieht man, daß die alte Strategie der Union gescheitert ist. Der Anspruch, eine demokratisch legitimierte Partei rechts von der Union zu verhindern, ist gescheitert und damit die „arithmetische“ Gewißheit, daß Wählerverluste zu einem großen Teil immer vom eigenen Koalitionspartner FDP aufgefangen werden.

Nutznießer des Niedergangs der Union ist nicht in erster Linie die SPD, die selbst nur gering zugelegt hat. Nutznießer sind vor allem die Grün-Alternativen. Gleichzeitig stellen wir eine explosive Entwicklung der neuen Rechten fest. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, dann bedeutet dies, daß sich die politische Mitte mit dem Neutrum FDP auflöst und wir künftig eine stark polarisierte politische Konstellation haben mit klar identifizierbaren, einander gegenüberstehenden politischen Lagern.

Die Regierung Kohl war angetreten, um mit einer geistig -moralischen Wende die ideologische Hegemonie der Sozialliberalen zu brechen. Sie ist zu einer politisch charakterlosen Partei der Anpassung und der Antizipation an Trends verkommen, an deren Zustandekommen sie geistig nicht beteiligt war. Die Konjunktur der Grün-Alternativen und das Hochkommen der Rechten ist ein Dokument des geistigen Versagens dieser Partei.

Die beiden Wahlniederlagen können sicherlich nicht mehr ausgesessen werden. Welche Konsequenzen sind zu ziehen?

Die CDU kann in dieser Lage nur personalpolitische Konsequenzen ziehen. Wenn sie entschlossen ist, sich zu retten und die nächsten Wahlen zu gewinnen, dann muß sie den Mut haben für radikale Veränderungen.

Ganz konkret: Wie könnten diese Veränderungen aussehen?

Die Partei sollte im Mai Helmut Kohl zum Bundespräsidenten wählen und Richard von Weizsäcker bitten, das Amt des Regierungschefs zu übernehmen. Außerdem müßte sie Kurt Biederkopf zum Parteivorsitzenden wählen. Die Union würde damit Kohl auf eine honorige Art und Weise als Regierungschef ablösen, die sein Selbstwertgefühl nicht belastet, und zweitens würden die gewaltige Popularität und das Ansehen Weizsäckers ihr eine stabile Mehrheit sichern. Biedenkopf schließlich ist der einzige konzeptionell wirklich begabte Kopf der Union. Er würde dieser Partei ein attraktives Profil zurückgeben.

Das wäre eine sehr weitgehende Option, die kaum vorstellbar erscheint, zumindest was den Wechsel von Weizsäcker ins Kanzleramt und Kohl ins Präsidialamt angeht.

Die Lage ist da und sie ist ernst. Es geht hier um die Überlebensfrage der CDU und da müssen auch sehr unkonventionelle Lösungen gefunden werden.

Die naheliegende Forderung ist sicherlich die Ablösung von Kohl. Da kann Ihnen auch die Linke folgen.

Wenn man die Diskussion in der Partei in den letzten Wochen beobachtet hat, dann verdichtet sich der Eindruck, daß viele Parteifreunde das Gefühl haben, daß man mit Kohl keine Wahlen mehr gewinnen kann. Es ist eine Frage des Zeitpunkts, wann Kohl abgelöst wird. Aber es ist auch die Frage, ob dies der Partei noch rechtzeitig gelingt. Sollte er nicht durch Weizsäcker abgelöst werden, wäre Lothar Späth sicherlich nach Lage der Dinge der Kandidat für die Nachfolge.

Neben Kohl ist Heiner Geißler der Hauptrepräsentant der gegenwärtigen CDU-Politik. Der müßte nach Ihrer Logik dann auch gehen.

Geißler hat seine Bedeutung nur, weil Kohl Parteivorsitzender ist. Unter einem Parteivorsitzenden Biedenkopf wäre Geißler auf das natürliche Maß eines Generalsekretärs reduziert. Geißler ist erst zum Problem geworden, weil der Regierungschef nach Buchhaltermodell Politik macht, also die Probleme Punkt für Punkt abhakt oder aussitzt, ohne konzeptionell geschweige denn historisch zu denken und zu handeln. Und ohne seine Entscheidungen mit einer rhetorischen Gabe überzeugend und konsensschaffend zu vermitteln. Wer heutzutage nicht in der Lage ist, durch die Überzeugungskraft des Wortes seine Politik zu verdeutlichen und Menschen dafür zu gewinnen, hat in dieser Republik keine Chance mehr. Das gilt im übrigen für alle Parteien, auch für die Grün-Alternativen, deren Gestotter oftmals völlig unerträglich ist.

Die Ablösung von Kohl ist eine Sache. Aber es gibt ja neben dem Bundeskanzler ein zweites objektives Dilemma für die Union: Am rechten Rand bröckelt es gewaltig; sie verliert Wähler an die neue Rechte. Das wäre mit Späth und Biedenkopf an der Spitze nicht anders.

Da muß ich auf meinen alten Vorschlag zurückkommen. Mit dem Aufstieg der Grün-Alternativen war das Auftauchen einer Partei rechts von der CDU geradezu naturgesetzlich. Die Union hat hier nur die Alternative, mit einer CSU bundesweit zu marschieren und die CDU nach mitte-links zu verschieben. Nur so kann der gegenwärtige Rechtspopulismus integriert werden. Sonst bleibt der Union, wenn sie weiterregieren will, nur noch übrig, eine Koalition mit der neuen Rechten einzugehen. Genauso, wie das die SPD mit den Grünen macht. Auch die SPD hat die Integration der Grünen und Alternativen nicht geschafft und koaliert heute in Berlin mit ihnen und morgen in Bonn.

Bei einer Koaliton mit den „Republikanern“ würde die CDU aber erneut massenhaft Wähler verlieren: also die Yuppies, die nachdenklichen Konservativen, Sozialausschüßler usw..

Natürlich würde die CDU eine Koalition mit rechts mit denselben halsbrecherischen Verrenkungen vermitteln, wie das die SPD jetzt in Berlin bei rot-grün tut. Sie würde sagen, wir wollen das nicht, aber wir müssen vorübergehend in den sauren Apfel beißen und hoffen, daß uns der Wähler da bald wieder heraushilft. Sie wissen ja, wie man so etwas macht.

Sehen Sie tatsächlich eine Bereitschaft innerhalb der Union, im „Notfall“ mit „Republikanern“ oder NPD zu koalieren?

Heute noch nicht, aber für den Fall, daß die sich andeutende Polarisierung Wirklichkeit wird, bleibt der CDU nichts anderes übrig, wenn sie keine große Koalition mit der SPD eingeht. Die „Republikaner“ können als politischer Faktor nicht wegdiskutiert werden. Sie sind als eine rechtspopulistische Strömung mit wachsender Tendenz unübersehbar, und sie sind eine Bewährungsprobe für unsere Demokratie.

In Hessen hat die Union versucht, den rechten Rand zu umarmen. Dieser Marsch auf die Stammtische ist gründlich gescheitert.

Der Versuch kam zu spät und er war viel zu durchsichtig. Jeder hat gemerkt, daß dies eine Reaktion auf das Berliner Wahlergebnis war. Außerdem waren die Parolen plump von der NPD übernommen worden, die ich im übrigen in der Tat für eine nicht mehr tolerable Partei halte.

1990 sind Bundestagswahlen. Es bleibt wenig Zeit für die CDU, sich personalpolitisch und parteistrategisch auf die neue Situation einzustellen. Trauen Sie dies der Union überhaupt noch zu?

Wenn ich ehrlich bin, muß ich diese Frage verneinen. Aber das Schicksal der CDU liegt nicht allein in ihrer eigenen Hand. Ihr Schicksal ist eng mit dem Ausgang der neuen Koalition in Berlin verknüpft und dem Schreckgespenst von Rot-Grün. Es hängt sogar ein wenig an Ihrer Zeitung, die vielleicht verhindern kann, daß die AL in Berlin einen schweren Fehler macht. Die letzte Chance für die CDU ist das rot-grüne Chaos und die Frage, ob sie damit argumentieren kann oder nicht.

Interview: Manfred Kriener