Zugreise an die neue Peripherie Europas

■ Durch den Tunnel nach Liverpool / Durch Südengland mit 80 km/h / Nur der Großraum London wird an Europa angeschlossen

Mai 1993. Die achthundert Fahrgäste des TGV Paris-London rasen mit 300 Stundenkilometern durch das Becken von Calais. Die Busineß-Elite des neuen Europäischen Binnenmarktes hat ihre lap-top-PCs (für Zurückgebliebene: Schoßcomputer) aufgeklappt und bereitet sich mit dem Studium von Umsatzdiagrammen und Profitkurven auf den nächsten Geschäftsabschluß vor. Über die im Zugabteil montierten Monitore werden die aktuellen Aktienkurse an den internationalen Kapitalmärkten wiedergegeben. Wem bei seiner Computerübertragung das Modem klemmt, der benutzt halt die installierten Faxmaschinen für die message an die Sekretärin im Büro.

Jetzt fliegt der TGV gerade am französischen Tunneleingang von Sangatte an den wartenden Shuttle-Waggons mit den Autoreisenden an Bord vorbei und dringt mit einer leichten Druckwelle in die Doppelröhre unter dem Meeresboden ein. Wer die an Bord gebotenen Videos schon kennt, genehmigt sich in der post-post-modernen Plüschbar einen Drink unter dem Ärmelkanal. Gerade als der auf den Namen „Eurobond“ getaufte Schnellzug wieder aus dem „Chunnel“ herausgleitet, läßt allerdings ein plötzliches Bremsen den doppelten Whisky über den Glasrand schwappen.

„Willkommen in Großbritannien“, dem Land, wo der Begriff „Planung“ bereits anno 1979 von der Domina des laisser faire aus dem Vokabular gestrichen wurde. Denn während die staatlichen Planer in Frankreich von Beginn an ein integriertes Schnellzug-Tunnel-Konzept verfolgt hatten, war der Regierung Thatcher erst nach Baubeginn des Tunnels aufgefallen, daß sich der rasende TGV auf dem veralteten britischen Schienennetz hinter Folkestone in einen dahinkriechenden Wurm verwandeln würde. Statt mit 180 Meilen schleicht das stromlinienförmige Monstrum nun mit ganzen 50 Sachen über das völlig überlastete Schienennetz Südenglands.

Ob der Thatchersche Privatkapitalismus die im Bau befindliche Schnellzugtrasse nach London je fertigstellen wird, vermag niemand zu sagen. Daß die privatisierten Londoner Verkehrsbetriebe jedenfalls schon lange vor dem Verkehrschaos der britischen Metropole kapituliert haben, erfahren dann all diejenigen Reisenden, für die King's Cross die Endstation ist. Mit der Durchschnittsgeschwindigkeit der Pferdekutschen des 19.Jahrhunderts (8 Meilen pro Stunde) gelangen die Handelsreisenden schließlich per Taxi in das Hauptquartier der gewünschten Company. Für die übrigen Passagiere beginnt hinter London der abenteuerliche Teil ihrer Reise in den englischen Norden. Denn während sich auf dem Kontinent zwischen Madrid, Paris, Brüssel und Frankfurt im ökonomischen Herzen des neuen Europas mit staatlicher Hilfe ein Schnellzugnetz zu spannen beginnt, hatten die britischen Politiker in den 80er Jahren völlig vergessen, daß das Vereinigte Königreich nördlich von London noch lange nicht aufhört. Die Privatisierung der staatlichen Eisenbahnen und deren Aufspaltung in private, regionale Eisenbahngesellschaften wie zu Zeiten der industriellen Revolution hatte in den weniger profitablen Eisenbahnnetzen des Nordens zu einer Verschlechterung des Service geführt.

Kurzum, hinter Watford bleibt der Zug erst einmal wegen „Signalversagen“ stehen. Während Nordfrankreich nach der Öffnung des Kanaltunnels von den Grundstücksmaklern in London längst als Flächenerweiterung der südenglischen Grafschaft Kent angesehen wird, rücken Newcastle und Liverpool nun immer weiter von der Metropole weg. Falls dem Nord-Süd-Gefälle Großbritanniens nicht durch eine koordinierte Regional- und Verkehrspolitik entgegengewirkt würde, so hatte eine Verkehrsstudie bereits 1989 gewarnt, werde der Kanaltunnel die Spaltung des Landes noch verschärfen. Genau das scheint gerade zu passieren, sagen sich die Reisenden, als sie in Liverpool mit großer Verspätung aus dem Zug steigen. Hier werden sie nicht mehr hinfahren, um Geschäfte zu machen. Der Kanal, so erkennen sie, wird nicht die europäische Integration Großbritanniens, sondern nur den Anschluß des Großraums London an den Kontinent bringen.

Rolf Paasch