Leute macht schnell, gleich kommt der Beton

■ Wulf Eichstädt, Architekt, Stadtplaner und engagierter Verfechter behutsamer Stadterneuerung über ausgelassene Probleme im rot-grünen Koalitionspapier zur Wohnungspolitik / Künftige Wahl mit Erfolgen in dieser Art rot-grüner Wohnungsbaupolitik zu gewinnen wird überaus schwierig

Berlin muß sich zum ersten Mal seit dem Mauerbau mit einem Bevölkerungswachstum auseinandersetzen, das größer ist als alle denkbaren Neubauraten. Wer die aktuelle Wohnungsnot in den Griff bekommen will, muß sich darum vor allem mit der Bevölkerungsentwicklung kritisch auseinandersetzen.

Die Knappheit an geeigneten Flächen für den Wohnungsneubau ist viel dramatischer als im Koalitionspapier angedeutet. Die Ausweichkonzepte der alten CDU-Regierung - Dachausbau und Innenstadtverdichtung - sind für eine Reform-Regierung nur eingeschränkt nutzbar. Aus diesem Grund wird man nicht 7.000 Wohnungen pro Jahr neu bauen und gleichzeitig den Flächennutzungsplan zugunsten von ökologischen Ausgleichflächen und Dauerkleingärten revidieren können.

Die alte CDU-Regierung hatte vor, ihr Wohnungsbauprogramm notfalls zentral-staatlich autoritär durchzusetzen gegen jede Bürgerbeteiligung und bezirkliche Mitsprache. Die SPD/AL-Regierung strebt demgegenüber solide Planungsverfahren und einvernehmliche Abstimmungen zwischen Bezirks- und Senatsebene an. Nur: Es ist abzusehen, daß der Widerstand beinahe aller Bezirke gegen weitere Verdichtungen bestehen bleiben wird, so daß die anvisierten Programmzahlen allein durch diesen Dissenz blockiert werden können.

Die als Träger in Aussicht genommenen großen gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften haben in den zurückliegenden acht Jahren nur wenig von ihrer Gutsherrenmentalität abgelegt, ihre Führungsgruppen sind in der Mehrzahl die gleichen, die das Baudesaster der siebziger Jahre mit zu verantworten haben. Die Senatspolitik hat bis heute keinen verläßlichen Weg gefunden, diese Elefanten in demokratische Planungs- und Entscheidungsstrukturen einzubinden. Andererseits wird in dem Koalitionspapier offensichtlich bewußt darauf verzichtet, selbstorganisierten Projekten eine erweiterterte Wolle zuzuweisen.

Wachsen, aber wie?

Berlin hat in den vergangenen zehn Jahren in dem Bewußtsein gelebt, eine halbwegs stabile 1,9 Millionen-Stadt zu sein, auf diese Zahl war jede staatliche Aufgabenplanung zugeschnitten. Inzwischen hat nicht nur der alte Metropolen -Senat das 2,0-Millionenetikett für sich entdeckt, sondern die Stadt hat sich tatsächlich anders entwickelt. Bedingt durch die Volkszählungskorrektur, die Zuwanderung aus Westdeutschland seit 1986 sowie die Zuwanderung aus Osteuropa seit Ende 1987 hatte Berlin Ende 1988 nicht eine Einwohnerzahl irgendwo zwischen 1,9 und 2,0 Millionen, sondern eindeutig 30.000 Einwohner über der 2 -Millionengrenze - eine Zahl, die ständig steigt.

Stabile Grundlage für diese Zunahme um mindestens 20.000 Einwohner pro Jahr ist der Aussiedlerstrom aus Osteuropa. Hier bestehen alte Absprachen zwischen dem Diepgen-Senat und der Bonner Regierung, daß Berlin mindestens 10 Prozent der jährlich erwarteten 200.000 Aussiedler aufnimmt. Nach allen bisher bekannten Tatsachen hält diese Zuwanderung unvermindert an und es ist nur natürlich, daß West-Berlin für viele Ankommende ein sehr viel günstigerer Standort ist als irgendein Aufnahmelager in Nordrhein-Westfalen oder Baden-Württemberg.

Das erste Problem ist nun, daß mit der dieser Zuwanderung die Wohnungsbauaufgabe immer unlösbar bleiben wird, weil die tatsächlich realisierten Neubauraten immer geringer sein werden als der jährlich neu hinzukommende Bedarf. Das zweite Problem ist, daß man für diesen Zusammenhang eine Lösung finden muß, die dem Anspruch der Stadt, lebendige Drehscheibe zwischen Ost und West zu sein, ebenso gerecht wird wie den nicht wegzudiskutierenden Versorgungsansprüchen in den vorhandenen Warteschlagen an Wohnungs- und Arbeitsmarkt.

Wie die AL mit diesem Thema umgehen will, weiß offensichtlich zur Zeit niemand. Die SPD hat immerhin erste Testballons steigen lassen, um herauszufinden, wieweit eine bundesweite Kontingentierung der jährlichen Aussiedler -Aufnahmezahlen im rot-grünen Spektrum mehrheitsfähig zu machen ist.

Bodenloses Bauen

Der Wohnungsbedarf in Berlin ist mit Sicherheit größer als die im Koalitionspapier in Aussicht genommenen 28.000 Wohnungen. Etwa 35.000 Wohnungen fehlen, um die vorhandene Bevölkerung einigermaßen solide zu versorgen. Kommen bis 1992 jährlich 20.000 Einwohner bzw. 8.000 bis 10.000 Haushalte dazu, vergrößert sich der Wohnungsbedarf um weitere 32.000 Wohnungen, was den rechnerischen Gesamtbedarf bis 1992 in die Nähe von 60.000 bis 70.000 Wohnungen rückt eine schwerverdauliche Zahl, weil sie eine neue Stadt von der Größenordnung Aachens oder einen neuen 13. Berliner Bezirk umschreibt, der irgendwo in den Ritzen der Stadt untergebracht werden müßte.

Bauplätze für einen solchen Wohnungsbau gibt es zur Zeit nicht - nicht einmal für ein Drittel dieser Größenordnung. Wer die Auseinandersetzungen um den Flächennutzungsplan mitverfolgt hat, muß auf zwei Merkwürdigkeiten gestoßen sein: Zum einen wurden zwischen 1984 und 1988 die Bevölkerungszielzahlen immer weiter heraufgesetzt, ohne daß entsprechend zusätzliche Wohnungsbauflächen nachgewiesen wurden, vielmehr nahm man die Wohnungsbauflächen in Konflikt mit den anderen Nutzungen Zug um Zug zurück, so daß zum Schluß nur noch Bauland für ca. 15.000 Wohnungen sowie einige Baulücken übrigblieben. Der Flächennutzungsplan ist also auf eine Stadt mit mehr als zwei Millionen Einwohnern gar nicht eingestellt. Die zweite Merkwürdigkeit der Flächennutzungsplandebatte besteht nun darin, daß dieser Widerspruch in der abschließenden Behandlung gar nicht zur Sprache kam, sondern von der erschöpften Zufriedenheit über die gefundenen Kompromisse zugedeckt wurde. Auch heute noch argumentieren die Planer des Senators für Stadtentwicklung und Umweltschutz damit, daß die hochgeschnellten Bevölkerungszahlen temporäre Überhitzungen bedeuten, auf die die längerfristig ausgerichtete Flächensicherungspolitik nicht unbedingt einzugehen hat.

Muß man sich darauf einstellen, daß die Inselstadt West -Berlin mit der Ausdehnung ihrer baulichen Bezirke zunehmend an Grenzen stößt, die zu verletzen mit nicht wieder gut zu machen Verlusten an Lebensqualität bezahlt werden müßte? Die Auswege, die sich der alte Senat von seinen Planern hatte aufzeichnen lassen, waren allesandere als konfliktfrei: Baulücken und Dächer - zum Schluß auch überdachte Autobahnen - hießen die Bauplätze von morgen. Übergangen wurde dabei, daß viele Baulücken dringend für die Erweiterung von Gemeinbedarfseinrichtungen benötigt werden und daß es gegen einen forcierten Dachausbau viele berechtigte Einwände gibt, vor allem in der inneren Stadt. So haben die Bezirke Schöneberg, Kreuzberg und Wilmersdorf in der Vergangenheit immer wieder versucht, den Einfamilienhausbau über den Köpfen der Berliner Mieter einzuschränken, weil sie mit Recht darauf hingewiesen haben, daß für die bereits vorhandene Wohnbevölkerung die Infrastrukturversorgung nicht ausreicht. Daß alle diese Streitpunkte sich in neu besetzten Gremien und Ämtern in nichts auflösen, ist nicht zu erwarten.

Bereits die Einlösung der Koalitionsabsprache von 28.000 Wohnungen bis 1992 benötigt darum zusätzliche Flächen, die bisher nicht für den Wohnungsbau reserviert sind. Wie eine solche Umverteilung im Dialogverfahren ins Werk gesetzt wird, daß ist die Frage, die dem kommenden Bausenator noch viel Kopfzerbrechen bereiten wird. Das gleiche gilt für die Finanzierung des ehrgeizigen Wohnungsbauprogramms, zumal die laufenden Belastungen aus den Förderungsprogrammen der vergangenen Jahre bereits astronomische Größenordnungen erreicht haben.

Baupolitik von unten

Eine Baupolitik von unten hat es für den abgelösten Senat nie gegeben. Das Verfahren, mit dem er seine Neubaupläne durchsetzen wollte, war eindeutig: Im Konfliktfall wurden die Bezirke angewiesen, bestimmte Vorhaben zu genehmigen. Kamen die dazugehörigen Arbeitsprozesse nicht zustande, zog der Bausenator das gesamte Verfahren an sich.

Auf diesem Weg kann ein neuer Senat mit Sicherheit seine Baupolitik nicht durchsetzen, trotzdem hat es in den Koalitionsverhandlungen erheblich geknirscht bei der Frage, wer für die Entscheidungen in der Bauleitplanung letztendlich verantwortlich ist. Die SPD hat sich das letzte Wort mit ihrem Bausenator vorbehalten, gleichzeitig aber gelobt, Planungskonflikte zwischen Bezirks- und Senatsebene einvernehmlich lösen zu wollen. Während der alte Senat sein Neubauprogramm im Windhundverfahren mit den privaten Trägern realisieren wollte, wird es jetzt konsolidierte Absprachen zwischen der lokalen und der zentralen Ebene geben müssen. Es ist zu erwarten, daß die Bezirke von sich aus keine Bauplätze für 30.000 Wohnungen nachweisen können, weil ihnen die dabei tangierten Interessen wesentlich näher sind als jeder Zentralverwaltung. Die beiden kompliziertesten Fragen in diesem Dialog sind darum, mit welchen Mitteln der Senat die Akzeptanz für einen forcierten Wohnungsausbau vergrößern kann und ob er kurzfristig neue Baulandreserven mobilisieren kann, die die mühsam erreichten Kompromisse zwischen Wohnen, Gewerbe, aktiver Freizeit und Umweltschutz nicht gleich an allen Ecken in Frage stellen. Da er in diesen Verhandlungen so etwas wie zusätzliche Angebote einbringen muß, können ihm im Prinzip nur die Alliierten, die Reichsbahnverwaltung und die DDR wirklich helfen.

Darüber hinaus muß er sich wohl darauf gefaßt machen, sein Leistungsziel auf das zu beschränken, was tatsächlich im Dialog durchsetzbar ist. Vielleicht hat die AL den Wohnungsbaupositionen der SPD auch deshalb nur so kampflos zugestimmt, weil sie von dem Erfolg der Behinderungskräfte, die dem Programm entgegenstehen, überzeugt ist.

Trägerkarussell

Die Ristok-SPD hat Ende der siebziger Jahre die privaten Träger ins Spiel gebracht, weil sich die großen städtischen Gesellschaften als nicht mehr „regierbar“ erwiesen hatten. Die CDU hat sich ganz auf die Privaten verlassen und ist damit in den größten Bauskandal der Berliner Nachkriegsgeschichte geschlittert. Die SPD möchte jetzt zurück zu den alten Machtverhältnissen der siebziger Jahre, ohne nachweisen zu können, daß die großen städtischen Gesellschaften überhaupt in der Lage sind, eine neue demokratische Baupolitik konkret mitzugestalten und umzusetzen.

Da die AL ganz auf ihr Konzept für einen kommunalen Wohnungsbau gesetzt hat, und dabei mit zwei Modellansätzen im Jahr 1991 abgespeist wurde, sind die Selbsthilfe und die selbstorganisierten Projekte durch den Rost der Koalitionsvereinbarungen gefallen und es wird einige Mühe kosten, sie überhaupt zu einem festen Programmbestandteil einer rot-grünen Baupolitik zu machen. Warum soll es nicht ein Sondervermögen für genossenschaftliche Projekte geben, warum sollen nicht zehn Prozent der Landesgrundstücke prinzipiell an selbstverwaltete Projekte vergeben werden, warum soll nicht die bei den ehemals besetzten Häusern so erfolgreich praktizierte Verbindung von selbstorganisierter Wohnversorgung und Arbeitsbeschaffung weiter ausgebaut werden?

Der Tenor der Koalitionsvereinbarungen ist ein neu ausstaffierter Versorgungsstaat, von bürokratischen Strukturen beherrscht und geleitet. Daß die SPD zu solchen Auffassungen neigt, ist genauso bekannt wie ihre Abneigung gegen ein anarchisches Netz kollektiver Kleinunternehmen daß von ihr also kein Ruf in diese Richtung zu hören war, ist nicht erstaunlich. Warum die AL diesen Bereich und die Ideen, die einmal den Begriffen der Alternativen mitgeprägt haben, so cool links liegen läßt oder vergißt, bleibt ihr Geheimnis.

Alles in allem enthält das Koalitionspapier im Bereich Wohnungspolitik wenig Elemente, an denen eine Zusammenarbeit zerbrechen muß. Nur: Eine Wahl zu gewinnen mit Erfolgen in diesem Bereich, wird überaus schwierig.