Hoch die Situationistische Internationale

■ Zwei Ausstellungen im Pariser Centre Pompidou und im Goethe-Institut

Im August 1975 finden die Dirigenten Italiens in ihren Briefkästen 520 Exemplare „Wahrheitsgemäßer Report über die letzten Chancen, den Kapitalismus zu retten“. Mit machiavellistischen Argumenten wird darin für den historischen Kompromiß zwischen Christdemokraten (DC) und Kommunisten (PCI), zwischen Kapital und Arbeiterbewegung plädiert. Einzig die Arbeiterbewegung mit ihrem Gewerkschaftsapparat sei in der Lage, Ordnung in die drohende Folge „wilder Streiks“ zu bringen, es sei deshalb an der Zeit, ihr die Illusion der Macht zu gewähren, zumal die Beteiligung an der Macht Basis und kommunistische Führung immer weiter voneinander entferne. Als Urheber dieser scharfsichtigen Analyse, versteckt hinter dem Pseudonym Censor, gilt den Lesern ein großer Industrieller oder Führer der Rechten. Tatsächlich aber hat sich ein politisch denkender Kopf, Gianfranco Sanguinetti, einen entlarvenden Scherz erlaubt.

Sanguinetti gehört einem subversiven Zirkel an, der auf länderübergreifender Ebene arbeitet: der Situationistischen Internationale, die seit 1972 für aufgelöst galt. Nachdem der Mai 1968 ihre Ideen lauthals in die Straßen getragen hatte, empfand sich die bereits 1957 gegründete Vereinigung als überflüssig und befürchtete eine Vereinnahmung durch den Kunstmarkt oder die Medien. Dem beugte man vor, die Situationisten sind heute gründlich in Vergessenheit geraten.

Gründer und Kopf der Situationisten war der Franzose Guy -Ernest Debord, dessen Resümee 1971 mit dem Buch „La societe du spectacle“ erschien, was man heute salopp mit Mediengesellschaft übersetzen würde. Bereits in den frühen sechziger Jahren hatte die Gruppe heftige Kritik an der falsche Bedürfnisse produzierenden Konsumgesellschaft betrieben und einen nur symbolisch stattfindenden Warenaustausch konstatiert, ein leerlaufendes System, mit dem die Welt zu einem irrealen Spektakel wird. Zu Baudrillards Theorie der Simulation ist es nicht weit, sagen die Kritiker heute entzückt.

Aber man hat nicht nur theoretisiert, sondern auch gehandelt: gemalt und übergemalt, Filme gedreht, Städte entworfen, Pamphlete unter die Studenten und Arbeiter gebracht, Fotoromane mit revolutionären Texten versehen, Comics collagiert, Gesamtkunst mit allen Mitteln der Verdrehung und Satire betrieben. Das Pariser Centre Pompidou hat der Situationistischen Internationale jetzt eine Ausstellung gewidmet (bis 9.April).

Sektiererisch waren in der Vergangenheit viele Mitglieder ausgeschlossen worden, mehr wegen persönlicher Anwürfe des Arrivismus (etwa einer nicht „genehmigten“ Ausstelllung) als wegen ideologischen Abweichlertums. Auch die Münchener Gruppe Spur, der im Pariser Goethe-Institut in der Rue Conde eine kleine Ausstellung gilt, hatte sich „zu weit aus dem Fenster gehangen“.

Asger Jorn, das prominenteste Mitglied der Situationisten, war bereits bei Cobra dabeigewesen. Jorn erstand Bilder auf dem Flohmarkt, wahre Prachtschinken, und bearbeitete dann zum Beispiel die „Hirschbrunst im wilden Kaiser“ (1960) mit heftigen Farbstrichen. Der Holländer Constant plante Ende der fünfziger Jahre im Sinne des „unitären Urbanismus“ seine Babylon-Städte ohne jenen verabscheuten antikreativen Funktionalismus, seine serpentinenverschlungenen Modelle weisen kaum Innenwände auf. Der Italiener Giuseppe Pinot -Gallizio praktizierte die „industrielle Malerei“ (1959): Der Käufer konnte sich nach Belieben ein Stück buntes Farbenwerk vom Ballen schneiden lassen. Damit ist es heute natürlich vorbei, der Rest der hundert Meter langen Rolle ist ein unverkäufliches museales Muster.

Den Begriff Situationismus mochten die Künstler nicht, denn es galt nicht, eine Lehre zur Interpretation der Wirklichkedit oder gar eine Schule mit Anhängern zu schaffen. Wohl aber durften sie sich Situationisten nennen, denn ihr Bestreben war es, bestehende Situationen auseinanderzunehmen (Dekomposition) und durch die Konstruktion neuer Situationen zu verändern.

Sprüche wie „Wir wollen, daß unsere Gedanken gefährlich sind“ oder „Das Leben spannend gestalten, wir wissen, wie es geht“ sind schön, aber verblöden in der Ausstellung hinter Plexiglas. Sie markieren ein selbstironisches und paradoxes „Achtung, Sie betreten den Ausstellungsraum...“ - schwierig und machmal recht langweilig, diese an Situationen gebundene Kunst auszustellen und visuell umzusetzen. Wie so oft ist die Geschichte hinter der Ausstellung spannender als diese selbst.

Situationisten wie Guy Debord oder Raoul Vaneigem sind daher auch zur Ausstellungseröffnung nicht erschienen. Dafür hat das Personal des Centre Pompidou gezeigt, daß es ihre Mittel nach wie vor anzuwenden weiß. Mit einem humorvollen Flugblatt im Comicstil fordern die Mitarbeiter eine Lohnerhöhung von umgerechnet 450 Mark. „Entfremdet, einverstanden, aber nicht im Elend“, heißt es dort.

Sabine Seifert