Mosaik des Absitzens

■ Friedrich Kröhnkes Roman „Was gibt es heut bei der Polizei?“

Trifft ein Päderast einen Sozialdemokraten. So könnte ein Witz anfangen, ein schlechter Witz, ein Ablacher. Daß Friedrich Kröhnkes Roman nichts davon hat, weder mit Hurra tabuisiertes Terrain erstürmt noch um Verständnis buhlt, liegt an dem, was die beiden Hauptfiguren verbindet. Was gibt es heut bei der Polizei? erzählt nicht nur aus dem Leben eines Päderasten, sondern schreibt auch die längst fällige Geschichte einer verbreiteten Einrichtung: der Arbeitsbeschaffungsmaßnahme.

„Das ist doch kein Beruf!“ bekommt Kranick, der „chickenhawk“, zu hören, als er einmal „Angaben zur Person“ machen soll. „Das ist eine Weltanschauung“, kontert er. Zwei Jahre lang sitzen sich Kranick und Esselborn „in ungesunder, von keinem Wehrdienst aufgerichteter Körperhaltung“ gegenüber, im sogenannten Packraum eines Stadtarchivs, wo man sie hinverfrachtet hat. Schreibtischrücken an Schreibtischrücken sitzen sie ihre Zeit ab, sammeln „Aktenniederschlag“ zum Thema „Das Alltagsleben des kleinen Mannes“. Das meiste, was der Roman an Handlung entfaltet, ist eigentlich Schreibtisch-„Talk“. Kranick erzählt: Von den Kneipen, in die er abends geht. Von den Jungen und den Freiern. Vom „Ameisenpfad“, der manchmal in seinem Bett endet. Fotos von Jungen wandern über die Tischplatte. Und selbstverfaßte Erotika: „Gehst du mit auf das andere Ufer, Marce Flavi? Ich will mir einen Eburonenknaben aufreißen, knackig und blond. - Nicht so laut Quinte, die Thermen haben Ohren...“

Die Anlage des Romans erinnert von fern an Manuel Puigs Kuß der Spinnenfrau. Zellengespräche eines phantasierenden Schwulen und eines „Politischen“. Doch der Packraum ist keine Zelle, und zur Polizei geht man zum Essen. „Pikantes Serbisches Reisfleisch“ ist einer der Hits auf der Speisekarte der gleich neben dem Stadtarchiv gelegenen Polizeikantine, in der auch ein Teil der Archivbelegschaft abgespeist wird. Es kann schon passieren, daß Kranick dort zwischen modischen italienischen Pullovern und City-Slippern, zwischen Beamten, die ihre Mahlzeit selbstironisch „Bullenfraß“ nennen, seinen Vernehmern von der Sitte über den Weg läuft. Dann wird normalerweise gegrüßt, denn abgesehen von seinen Abenden als „chicken -hawk“ ist Kranick so wenig Exot wie sein sozialdemokratischer Kollege. Beide taugen nicht zum Antihelden. Für sie ist es schon ein Akt von Widerstand (oder zumindest von „Solidarität“), wenn sie, die mit ihrer ABM-Stelle eigentlich ein Anrecht darauf hätten, mit den Kollegen vom „höheren Dienst“ mittags ins Speiselokal „Peng -Peng“ zu ziehen, lieber mit denen vom „gehobenen Dienst“ in der Polizeikantine ungesund essen.

Von solchen Kleinigkeiten lebt Kröhnkes Geschichte eines ungleichen Paars, das im Gleichtakt von ABM aneinander immer mehr Ähnlichkeiten entdeckt. Es sind „Weggefährten einer Generation. Einer Generation, die die Polizei prinzipiell nicht mag (eben hat Esselborn aufgestoßen, weil sie allzu mächtig kocht). Einer Generation, die nicht in die Berufswelt gefunden hat... Fünfzehn Jahre zuvor war ihr ganzes Sein von Sex und Politik bestimmt: davon kündete sie mit Pathos und Lärm. Ist nun nur jeweils einem von ihnen das eine geblieben manchmal meine ich, sagt Kranick zu Esselborn, du wärst was wie meine Kehrseite oder Ergänzung?

Derart plakative Zwischenbemerkungen leistet sich Kröhnke nur selten. Er wertet nicht, macht aus seinen Figuren keine Opfer. Sie sind einem nicht besonders sympathisch, aber man kann sie verstehen. Wenn sie doch etwas Heroisches haben, dann liegt es im Gleichmut, mit dem sie ihre unspektakuläre Pessoa-Existenz leben. Herren sind sie nur über ihre Akten, von 1484 bis zur Gegenwart. „Sechs Stockwerke und ein Bunkerkeller, kühl winters wie sommers, nur durch die schießschartenförmigen Fenster düster beleuchtet - wenn nicht die Neonröhren flackern. Lange Reihen metallener Stellborde links und rechts von den Gängen, endlose Serien immer der gleichen hellgrauen Kartons, in denen die Akten, die 'Acta‘, die 'SpecialActen‘ oder wie auch immer sie zu einer Zeit geheißen haben, übereinander gestapelt liegen.“

Dort kann sich immerhin Erstaunliches finden. Personen des öffentlichen Lebens in ungewohnten Zusammenhängen. Nachrichten von zärtlichen Lehrern der Adenauerzeit. Von der früheren Topographie der Stadt (Köln). Von Denunziationen von Hitlerjungen untereinander. Von Verurteilungen polnischer Zwangsarbeiter. Kranick und Esselborn rufen sich Einzelheiten durch die Gänge zu oder verlesen sie über den Schreibtisch. Spuren zeichnen sich ab. Namen tauchen wieder auf.

“'Koinzidenzen‘, spricht Kranick geheimnisvoll, 'Koinzidenzen! Aus Materie allein besteht die Welt nicht.'“ Und alles ist hier „niedergelegt“.

Doch gleichgültig, ob man - wie Esselborn - den „Aktenniederschlag“ mit der Pedanterie des kleinen Sozialdemokraten durchforstet, der niemals krankfeiert, oder - wie Kranick - schon mal einen Vormittag lang ausschweifend italienische Gedichte liest: Dafür, daß sie diese Koinzidenzen über das Anekdotische hinaus in Geschichtsbewußtsein verwandeln, werden die beiden Historiker nicht bezahlt. Sie sind nur Darsteller von Arbeit, eingebunden in ein kompliziertes System von Beschäftigtheit, Routine, Überwachen und Überwachtwerden. Kohldampf am Morgen, kleinen Geheimnissen und momentanen „kicks“. So lange, bis zwei Jahre um sind. „Auf einer Arschbacke haben wir's abgesessen“, heißt es dann. Noch ein Besäufnis, und man geht auseinander.

Was Friedrich Kröhnkes Roman davor bewahrt, Randgruppenfolklore zu schreiben, ist dieses Mosaik des Absitzens, vor dessen Raster auch eine so wenig erlaubte Neigung wie Päderastie ihre Exotik verliert. Keineswegs ist sie das Andere eines durchstrukturierten Alltags. „Wie meine doofe Partei ist deine Leidenschaft: mal banal und immer dasselbe und tagelang nichts los“, resümiert Esselborn. Ein Eselstrott, in dem alles weitermacht, ABM, SPD, der höhere und der gehobene Dienst, die Knabenliebe und die Polizeikantine, morgen wieder serbisches Reisfleisch pikant.

Thomas Groß

Friedrich Kröhnke: Was gibt es heut bei der Polizei? Roman. Ammann 1989, 163 Seiten, 29,80 DM