Eins zu sechzehn mal sechstausend

■ Der US-Schriftsteller über Rushdie, Khomeini und die westliche Feigheit im Umgang mit der Literatur

Norman Mailer

Nach meinem begrenzten Verständnis des Islams ist Märtyrertum dort im Glauben stillschweigend miteingeschlossen. Alle Religionen lassen zwar früher oder später durchblicken, ein wahrhaft Gläubiger müsse unter Umständen bereit sein, für den herrschenden Gott zu sterben; aber die Moslems dürften wohl von jeher dieser strengen Prüfung am treuesten zugewendet sein. Heute scheint es, daß die spirituelle Korruption des 20.Jahrhunderts auch im Islam Einzug gehalten hat. Wird doch der Moslem, dem es gelingt, Salman Rushdie zu ermorden, mit der großzügigen Summe von fünf Millionen Dollar belohnt. Das muß der größte Killerkontrakt der Geschichte sein. Der Islam mit all seinen gewaltigen Vorzügen und Auswüchsen, die den Vorzügen und Auswüchsen jeder anderen großen Religion mindestens ebenbürtig sind, hat jetzt ein neues Element in die Geschichte der Theologie eingführt. Er hat ihr die Logik des Verbrechersyndikats hinzugefügt. Man braucht nicht einmal zur „Familie“ zu gehören, um kassieren zu können. Man braucht nur der „hit man“ zu sein, der nun fünf Millionen Dollar abholen möchte. Jetzt, nach vollbrachter Tat, könnte man mich als einen Ungläubigen betrachten. „Ach, sehen Sie“, könnte mein iranischer Zahlmeister sagen, „wir können uns die fünf Millionen eigentlich nicht leisten. Wir haben so viele Männer im Krieg mit Irak verloren. Es gibt so viele Witwen, die Almosen brauchen, und wir haben unsere Waisen und unsere Veteranen, denen jetzt ein Arm oder Bein fehlt. Hören Sie, lieber Killer, wir nehmen an, Sie möchten gerne Ihren wohltätigen Beitrag leisten.“

Das ist nur die Spekulation eines Schriftstellers. Dazu sind wir da - um über menschliche Möglichkeiten zu spekulieren, uns auf die Phantasien, Zynismen, Kritiken und auf die Erforschung menschlicher Eitelkeit, menschlichen Verlangens und menschlichen Mutes einzulassen, welche die blanken Mauern mächtiger Organisationen gerne vor uns verbergen. Wir sind Schreiberlinge, die zu ergründen versuchen, was in den Ritzen noch sichtbar geblieben ist. Manchmal haben wir Glück und machen Leuten von ungebührlicher weltlicher Macht das Leben für kurze Zeit ein wenig ungemütlich. Meistens verbringen wir unsere Tage damit, uns gegenseitig zu verletzen. Schließlich sind wir ein fragiles Naturgut, eine bedrohte Art. Es ist für die Schwachen und Bedrohten nicht untypisch, sich auf dem Weg nach unten ein bißchen aufzufressen. Jetzt aber hat der Ayatollah Khomeini uns eine Gelegenheit geboten, zu unserer schwachen Religion zurückzufinden, die zufällig im Glauben an die Macht des Wortes und unserer Bereitschaft besteht, dafür zu leiden. Wer rüttelt uns auf zu der großen Wut, die wir verspüren, wenn unsere Freiheit bedroht ist, zu sagen, was wir wollen, sei es klug oder töricht, freundlich oder grausam, besonnen oder unbesonnen. Wir entdecken, daß wir unter Umständen doch bereit sind, für unsere Idee zu leiden. Vielleicht sind wir letztlich sogar bereit, für die Idee zu sterben, daß ernsthafte Literatur in einer Welt der schwindenden Gewißheiten und erstickenden Ökosysteme das Absolute ist, das wir verteidigen müssen.

Wir erlebten, daß unsere größte Buchhandelskette, Waldenbooks, die Satanischen Verse aus den Verkaufsregalen genommen hat, um die Sicherheit ihrer Angestellten nicht zu gefährden. Sofort tat es ihr die Firma B.Dalton nach. Beide hatten redliche Motive, ohne Zwieiel. Was hat man davon, in seinem Job einer Massenverkaufsorganisation „upwardly mobile“, auf der Karriereleiter, zu sein, wenn die Sicherheit nicht gewährleistet ist? Umgebracht werden, wenn man ein Buch verkauft? Das Ende der Welt ist gekommen. Schlimmer noch! Man könnte umgebracht werden, wenn man ein Buch kauft. Wer würde das der Firmenkette je verzeihen? Natürlich wurde die Alternative, eine solche Gefahr ruhig abzuschätzen und Angestellte und Kunden über die tatsächlichen Chancen zu informieren, nie in Erwägung gezogen. Im russischen Roulette, mit dem klassischen Revolver, ist die Wahrscheinlichkeit, daß man sich umbringt, bei jedem Abdrücken eine von sechs. Glücklicherweise habe ich nie russisches Roulette gespielt, aber wenn, dann hätte ich die Chancen sicher weit eher als ausgeglichen empfunden. Ich hätte den einen Teil meines Gehirns dringend gebraucht, um dem andern immer wieder zu erklären, daß die Chancen in Wirklichkeit fünf zu eins zu meinen Gunsten stünden. „Minimes Risiko“

Waldenbooks hat so um die tausend Verkaufsstellen. Wenn in einer Arbeitswoche von Montag bis Samstag einem Terroristen ein erfolgreicher Überfall auf einen Laden gelänge, dann wäre die Wahrscheinlichkeit, daß es nicht derjenige wäre, in dem Sie arbeiten, sechstausend zu eins. Würden Sie als Kunde eine halbe Stunde in einem dieser tausend Läden verbringen, die an sechs Tagen während acht Stunden geöffnet sind, dann würden sich die Chancen für Sie auf sechszehn mal sechstausend oder fast hunderttausend erhöhen. Ich glaube, wenn man solche Chancenverhältnisse laut verbreitet hätte, wären dadurch ebensoviele potentielle Kunden mit Lust auf die Pikanterie eines sehr kleinen Risikos angelockt wie abgeschreckt worden; für die Angestellten hätte man eine Gefahrenzulage von zehn Prozent einsetzen können. Wozu sind Rückstellungen für unvorhergesehene Ausgaben da?

Nein, die Antwort auf die Frage, warum Waldenbooks die Satanischen Verse zurückzog, liegt darin, daß sie ihr Produkt wie Dosensuppe verkaufen. Nur die Obdachlosen würden sich um eine Dose Suppe jemals selbst in Gefahr bringen. Die größten Liferanten unserer Bücher kümmern sich nicht um Literatur, sei es seriöse, halbseriöse oder mißratene. Die Lieferanten sehen in den Büchern eine Ware, die im eigentlichen Geist des Geldumlaufs verrottet, wenn sie zu lange in den Regalen steht. Deshalb stellen sie Verkäufer/innen ein, die ihre eigenen Gebräuche widerspiegeln. Sollte Saul Bellow einen seiner eigenen Romane in einer Ladenkette erwerben, in der er normalerweise nicht einkauft, und ihn mit seiner eigenen Kreditkarte bezahlen, dann wäre die Wahrscheinlichkeit, daß die Verkäuferin seinen Namen erkennt, ungefähr gleich hoch wie beim russischen Roulette: eins zu fünf. Saul Bellow könnte in einem Kettenbuchladen ein- und ausgehen wie ein Gespenst. Auch ich. Auch jeder andere etablierte seriöse Schriftsteller, der seit 30 oder 40 Jahren dabei ist. Tom Wolfe würde vielleicht erkannt, aber Tom ist ja auch, jedenfalls in diesem Jahr, hierzulande die am schnellsten ausverkaufte Suppendose.

Nicht verwunderlich also, daß Ladenketten amerikanischer Buchhändler vor Terroristen mehr Respekt zu haben scheinen als vor der Kultur. Wie sollten sie da die neueste Megafarce an der Medienstraße nicht noch ankurbeln helfen?

Ein seriöses Buch, das zum Teil unverantwortlich sein mag oder auch nicht, wie die meisten seriösen Bücher - ich kann mir nicht anmaßen, die Frage näher zu definieren, da ich es, wohl in bester Gesellschaft der Leute, die die Todesdrohungen aussprechen, noch nicht gelesen habe, obgleich ich es natürlich beabsichtige - ja, wenn man diesen seriösen, wenn auch möglicherweise unverantwortlichen Beitrag an die seriöse Literatur so behandelt hätte wie andere ernsthafte Romane, die fast immer teilweise frevelhaft, blasphemisch und insgeheim gegen den Staat sind, wenn er nicht auf formelle Empörung gestoßen wäre, dann hätte er das Schicksal anderer ernsthafter Bücher erlitten. Er hätte gute, sogar ermutigend gute, aber doch bescheidene Verkaufszahlen erreicht, wäre diskutiert worden und hätte seinen kleinen Platz im Regal der seriösen Werke eingenommen, um von ein paar treuen Lesern wieder hevorgeholt zu werden. Der Islam wäre vielleicht durch einen unter hunderttausend Buchteilen verletzt worden. Jetzt ist der Islam unendlich viel tiefer verletzt. Ganze Ströme von Tinte hat das Sakrileg zum Fließen gebracht. Ich behaupte, der Akt, soviel Aufmerksamkeit auf ein verachtetes Buch zu lenken, war von den moslemischen Führern vorsätzlich gewählt. Die weisen Männer im Iran wissen, daß das moralische Gewissen des Westens abgestumpft und daß niemand für irgendeine Idee zu sterben bereit ist, oder höchstens, um einen großen Lohn in bar zu bekommen: Denn wir leben an einer kunstvoll gearbeiteten Oberfläche, unter der Drogenkriege und Not brodeln. So hat der Ayatollah wohl zeigen wollen, wie lang die Peitsche ist, mit der er knallen kann, die Peitsche, deren Name in unserer bodenlosen Furcht vor der bodenlosen Grube des Terrorismus zu finden ist. Wenn wir an nichts glauben, wie können wir es ertragen zu sterben? Die Weisen des Islams wissen das von uns. Nie ehrlicher Widerstand

Man müsse die Schärfe einer solchen Auffassung respektieren, wäre es nicht so, daß den weisen Männern im Iran auch das Schicksal unserer Literatur vollkommen gleichgültig ist und daß sie jene Freiheiten des Wortes, von denen wir uns einbilden, daß wir sie hochhalten, mit aller Heftigkeit ablehnen.

In dieser Woche des Aufruhrs können wir uns jetzt eine schreckliche künftige Zeit vorstellen, in der fundamentalistische Gruppen in Amerika, die ihre Lehre aus dieser internationalen Episode ziehen, wissen werden, wie sie die gleichen Methoden bei amerikanischen Schriftstellern und Buchhandlungen anwenden können. Sollten sie damit je Erfolg haben, dann wird es darauf zurückzuführen sein, daß wir nie einen ehrlichen Widerstand gegen die Terrorisierung von Salman Rushdie gefunden haben.

Ich halte es daher für unsere Pflicht, uns geschlossen hinter ihn zu stellen, und für unsere Pflicht, die Welt wissen zu lassen, daß es, wenn er ermordet werden sollte, unser Gebot sein wird, seinen Platz einzunehmen. Wenn er um einer Torheit willen umgebracht wird, dann müssen wir um der gleichen Torheit willen umgebracht werden, und möglicherweise werden wir es auch, denn wir werden dann geloben, unser Bestes zu tun, um alle literarischen Versammlungen mit einer Lesung der entscheidenden Seiten aus den Satanischen Versen zu eröffnen. Eine wiederholte Torheit ist keine Torheit mehr, sondern eine Absichtserklärung. Wenn das, was Salman Rushdie geschrieben hat, eine schwerwiegende Torheit war, dann verpflichtet ihr uns durch seine Ermordung dazu, dieselbe schwerwiegende Torheit unsterblich zu machen. Denn wenn ein Schriftsteller durch einen Mordauftrag getötet werden kann und alle, die damit zu tun haben, ungestraft davonkommen, dann ist es besser, wenn wir alle, einer nach dem anderen, von einem gedungenen Killer getroffen werden, bis unsere Chefs in der westlichen Welt vielleicht endlich aufgeschreckt werden durch das schockierende Schauspiel unserer Bereitschaft, uns zu Märtyrern einer Sache zu machen, obwohl wir selbstsüchtige kreative Künstler sind.

Ich werde jedoch meinen Namen nicht allein auf eine solche Liste setzen. Wie andere habe auch ich meine Familie, meine Pläne, mein Leben, das ich zu Ende führen möchte. Schließen sich mir bei einem solchen Gelöbnis hingegen zehn gute amerikanische Autoren und Autorinnen an, oder zwanzig, oder hundert, dann sind wir verhältnismäßig sicher. Zumindest sind wir in einem beträchtlichen Ausmaß sicherer und können vor uns selber als ehrenvoll bestehen. Dann haben wir für die Freiheit echt eine Lanze gebrochen. Denn dann werden die weisen Männer im Iran wissen, daß auch wir unsere spirituelle Weisheit besitzen. Gewisse Handlungen zählen mehr als andere bei der Verteidigung der Freiheit, und die Bereitschaft, uns auf gefahrvolle Kosten unserer inneren Ruhe eine Idee zu eigen zu machen, steht möglicherseise im Zentrum dessen, worum es in der westlichen Welt geht. Wenn wir von Buchhändlern und Buchhändlerinnen verlangen möchten, daß sie sich hinstellen und ihre Arbeit tun, dann müssen wir von uns selbst mehr als das verlangen.

Übersetzung: Rosemarie Winterberg

Copyright 1989 by Norman Mailer. Deutsche Rechte durch Paul & Peter Fritz AG, Literarische Agentur, Zürich +++ Copyright für die deutsche Übersetzung 1989 by 'Weltwoche‘, Zürich