SPD im Grundsatz nach allen Seiten offen

Der Entwurf des neuen SPD-Grundsatzprogramms schreibt in drei Punkten die neue Bewußtseinslage der Partei fest / Die Rolle der Natur, der Frauen und der weltweiten Zusammenhänge als auffälligste Erneuerung gegenüber dem Godesberger Programm  ■  Von Charlotte Wiedemann

Die SPD hat einen Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm. Diese Feststellung ist so ziemlich die einzige, die bei dieser Materie nicht umstritten ist. Denn was in dem 82seitigen Werk nun wirklich drinsteht, daran scheiden sich die Geister - bei denen, die es gelesen haben ebenso wie bei jenen, die sich vor einem Kommentar dieser Mühsal lieber nicht unterziehen. Die einmalige Lektüre reicht ohnehin kaum aus: Das sagt jedenfalls Erhard Eppler, Hauptautor des Programms und deshalb der Mißgunst nicht verdächtig. Es komme nämlich vor allem darauf an, wie sich die einzelnen Teile aufeinander bezögen; schließlich gehe es nicht darum, Expertisen über einzelne Politikfelder anzufertigen und ihre Synthese dem Buchbinder zu überlassen. Ganzheitliche Betrachtung ist also gefragt - und als ganzheitliche Partei möchte sich die SPD mit ihrem neuen Programm auch darstellen: Abschied von Männertümelei, Technokratie- und Wachstumsfixiertheit, hin zum Hoffnungsträger für eine von Zukunftsängsten erfüllte Gesellschaft. Mann und Frau, Nord und Süd, Kultur und Natur - die Vision einer solidarischen Welt, die unteilbar ist. „Unser Zukunftsentwurf ist ein Angebot für ein Reformbündnis der alten und neuen sozialen Bewegungen“, heißt es am Ende des Programms. „Reformpolitik setzt auf Hoffnung“ und „Wir sind die Partei der Reform“. Wie das Godesberger Programm von 1959 den Schritt zur Volkspartei, zur Mitte, zur Marktwirtschaft markierte, so präsentiert sich die SPD jetzt als öko-soziale Bürgerpartei. Nicht von ungefähr ist der Entwurf in der „Wir„-Form geschrieben. „Viele Menschen leiden unter der Kluft zwischen dem, was politisch zu tun wäre und dem, was geschieht. Sie erwarten nichts mehr von der Politik (...) Wir Sozialdemokraten wollen beweisen, daß Politik der Mühe wert ist.“ Die Partei zum Anfassen, von der Hardware zur Software.

Bei der Inventur ihres politischen Selbstverständnisses hat die SPD vor allem dreierlei entdeckt: die Natur, die Frauen und die weltweiten Zusammenhänge. Hier sind die Unterschiede zum Vorläufer von Godesberg am augenfälligsten: Die ökologische Bedrohung existiert im Bewußtsein der Partei damals noch gar nicht, die Frauen firmieren unter „Familie und Jugend“ und die Dritte Welt erscheint gönnerhaft nur als „Entwicklungsländer“. Ökologie, Frauenemanzipation und globale öko-soziale Verflechtung - nicht nur die gesellschaftliche Bedeutung dieser „Themen“ ist in den vergangenen Jahrzehnten rasant gestiegen: In den zurückliegenden zehn Jahren waren dies auch die Felder, auf denen sich die Grünen für eine relevante Minderheit der Bevölkerung als Hoffnungsträger etablieren konnten. Der CDU -Generalsekretär Heiner Geißler griff zu kurz, als er den Programmentwurf als „verschämtes Werben um ein rot-grünes Bündnis“ anprangerte: Die SPD will selbst das rot-grüne Bündnis sein. Soweit ein Grundsatzprogramm überhaupt in den Augen der Öffentlichkeit ein Image prägen und eine Strategie unterfüttern kann, ist die Botschaft klar: Die Grünen überflüssig machen, indem die Motive ihrer WählerInnen in glaubwürdig wirkender Weise aufgenommen werden. Dabei kommt der Programm-Diskussion auch identitätsstiftende Wirkung nach innen, in die eigenen Reihen, zu: Die Partei soll von dem Selbstbewußtsein getragen sein, die Grünen nicht zu bauchen, nicht einmal als Korrektiv. Bei der öffentlichen Inszenierung des Lernprozesses darf Selbstkritik nicht fehlen. Mit Blick auf die rot-grüne Koalition in West-Berlin merkte der SPD-Chef Jochen Vogel an, die Partei hätte schon früher die „richtigen Fragen“ der Grünen aufnehmen müssen, doch seien deren Antworten falsch.

Die komplizierte Aufgabe, die Fragen so zu stellen, daß man sie auch beantworten kann, hat die SPD selbst allerdings in nahezu fünfjähriger Programmarbeit nicht bewältigt. Ähnlich wie die Grünen und die Erneuerer in der DKP sieht sich die SPD vor „Menschheitsaufgaben“ gestellt, die sich der Bewältigung im nationalen Maßstab ebenso entziehen wie der Beschreibung in marxistischen Kategorien von Herrschaftsverhältnissen. Die Betonung dieser „Menschheitsaufgaben“, nämlich die Sicherung der „natürlichen Lebensgrundlagen“, des Friedens und die Schaffung einer „gerechten Weltwirtschaftsordnung“, nennt Vogel als die erste von insgesamt zehn „Hauptbotschaften“ des Programms. Zentral ist dabei die Forderung nach „ökologisch und sozial verantwortlichem Wirtschaften“. Nur wie? Dem Staat als wesentlichem Eingriffs- und Steuerungsinstrument begegnet das Programm mit spürbarer Zurückhaltung: „Wer ihn überfordert, verursacht wuchernde Bürokratien“, die Gesellschaft dürfe nicht „verstaatlicht“ werden. Im nebulösen und gewundenen Hin und Her zwischen Markt und Staat bei der „ökologischen Erneuerung“ wird schließlich nur klar, daß die Sozialdemokraten auf die Versöhnung von Ökologie und kapitalistischer Ökonomie setzen: „Auf Dauer ist nichts ökonomisch vernünftig, was ökologisch unvernünftig ist.“ Das ökologisch Notwendige müsse „Prinzip ökonomischen Handelns“ werden, indem das „ökologisch Richtige ökonomisch vorteilhafter“ wird. Ähnlich wie die Grünen Vertreter eines Ökokapitalismus‘ will die SPD dies durch Abgaben, Steuern und finanzielle Anreize durchsetzen, zum Beispiel durch Verteuerung des Energieverbrauchs. Die Standardformel von Godesberg „Wettbewerb so weit wie möglich - Planung so weit wie nötig“ - wurde für das neue Programm noch einmal abgestaubt: Der Staat soll durch die Vorgabe von politischen Rahmenbedingungen den Unternehmern auf die Sprünge helfen, das angeblich auch für sie „Vernünftige“ einzusehen.

Angesichts der Bedrohungslage („Ökologische Erneuerung ist zur Frage des Überlebens geworden“), würde es eigentlich naheliegen, den profitorientierten Wirtschaftern heftig in den Arm fallen zu müssen, doch die SPD will den Kapitalismus nur am Ärmel zupfen. Für ein Programm, das die „hochmoderne Grundlage“ (Eppler) für die nächsten Jahrzehnte sein will, also auch für eine Situation womöglich dramatischer ökologischer Zusammenbrüche Geltung haben soll, ist das angebotene Instrumentarium frappierend läppisch: Als ob der Chemieindustrie durch Zulassungsverfahren und Umweltverträglichkeitsprüfungen beizukommen wäre. Auszusprechen, daß Bereiche heutiger Produktion nicht „ökologisch erneuert“, sondern nur stillgelegt werden können, hätte sich natürlich auf der Visitenkarte fürs Unternehmerlager nicht gut gemacht.

Für die entscheidende Frage einer Reformstrategie, wie nämlich andere Rahmenbedingungen gegen Kapitalinteressen verbindlich durchgesetzt werden können, hält die SPD nur einen Multiple-Choice-Katalog bereit: „Dies kann in westlichen Industrieländern durch staatliche Steuerung, gesellschaftlichen Konsens und die Gegenmacht von Gewerkschaften geschehen.“ Der politischen Weisheit letzter Schluß ist da der „Bürgerdialog“ - mit dem manche Bürger zur Zeit früherer SPD-Regierungen, z.B. an der Startbahn West in Hessen, doch arg schlechte Erfahrungen gemacht haben.

Auch bei den weltweiten Verteilungskämpfen setzt die SPD auf die Harmonisierung antagonistischer Interessen. Die Lage im südlichen Teil der Hemisphäre wird in dramatischen Tönen geschildert, um dann in einem Nebensatz „die Kontrolle transnationaler Konzerne weltweit“ durchzusetzen, von wem auch immer. Erst sollen die Vereinten Nationen zum Instrument „gewaltfreier Weltinnenpolitik“ werden, und ein bißchen später muß „die Weltgesellschaft sich eine Ordnung geben“, durch die alles friedlich und gerecht wird. Vor der Größe der Vision verblassen die anvisierten Handlungsschritte auch hier - im Angebot sind nur Ladenhüter: Reform von Weltwährungsfond und Weltbank, Schuldenerlaß für die ärmsten Länder.

Es mag für die SPD von Bedeutung sein, gewisse Fragestellungen überhaupt zuzulassen, etwa das Bekenntnis zur Nato in Zukunft zu öffnen hin zu einer Perspektive der Blocküberwindung. Am deutlichsten ist ein tatsächlicher Fortschritt in der Programmatik sicherlich in der Frauenfrage (dazu folgt ein gesonderter Artikel, d.Red.). Der Entwurf steht somit links von der Praxis der Partei aber dafür wurde er ja auch geschrieben: Als Gegengewicht zur Realpolitik, die an wesentlichen Fragen (Außenpolitik, Renten) die Gemeinsamkeit der großen Koalition sucht. Gemessen also daran, daß derartiges Grundsatz-Papier besonders geduldig ist, ist der Entwurf alles andere als der große Wurf einer innovativen Kraft des Fortschritts. Derzeit trägt der Rassismus dazu bei, das Parteiengefüge in der Bundesrepublik neu zu schichten - die SPD widmet der „Solidarität zwischen Kulturen“ in ihrem 82-Seiten-Produkt ganze 13 Zeilen. Und selbst für das Jahr 2000 bieten die sehr deutschen Sozialdemokraten den Ausländern nur das kommunale Wahlrecht an. Unter seinen neuen Kleidern ist der Kaiser ziemlich nackt.