Gorbatschow zieht vom Leder - und laviert

■ Die stagnierende Landwirtschaft der Sowjetunion ist Thema der Debatten im Plenum des ZK / Reformer und „alte Garde“ stehen sich, einmal mehr, gegenüber / Im Mittelpunkt: Das Nebeneinander unterschiedlicher Eigentumsformen / Privatpacht auf fünfzig Jahre?

Berlin (taz) - Auf dem seit Mittwoch in Moskau tagenden ZK -Plenum zu Fragen der Landwirtschaftsreform hat der sowjetische Staats- und Parteichef Gorbatschow den Zustand des Agrarsektors scharf kritisiert. In Fragen der Arbeitsproduktivität, der Ergiebigkeit der Felder sowie der Vielfalt und Qualität der Lebensmittelproduktion hinke die Sowjetunion allen entwickelten Industrieländern hinterher. Gorbatschow forderte eine, an ökonomischen Prinzipien ausgerichtete Agrarpolitik, die „umfassende Möglichkeiten für die Entwicklung von Selbständigkeit, Unternehmensgeist und Initiative bieten“ müsse.

Zwei Positionen stehen sich auf dem laufenden ZK-Plenum gegenüber: Die eine zielt auf Entbürokratisierung und Selbstverantwortlichkeit der produzierenden Betriebe. Für diese Position stehen die Kooperativen.

Die Gegenposition will am sozialistischen Charakter der Landwirtschaft festhalten und meint damit die von Stalin geschaffenen Strukturen. Besondere Brisanz erhält die Auseinandersetzung um die Agrarreform zudem dadurch, daß Igor Ligatoschow, der konservative Gegenspieler Gorbatschows, die Position des ZK-Sekretärs für Landwirtschaftsfragen bekleidet. An den mit Spannung erwarteten Beschlüssen des Plenums wird man deshalb zugleich den aktuellen Stand im Kräftemessen zwischen Reformern und „Alter Garde“ ablesen können.

Die Ernten schrumpfen

Die Sowjetunion, die dank ihrer fruchtbaren Böden ganz Europa ernähren könnte, ist seit Jahren auf Getreideimporte angewiesen. Die Produktion stagniert. 1988 wurden nur 195 Millionen Tonnen Getreide geerntet - statt, wie im Plan vorgesehen, 235 Mio. Tonnen. 1978 waren es noch 237 Mio. Tonnen. Die Kartoffelernte schrumpfte 1988 im Vergleich zum Vorjahr um 17 Prozent. Ursachen sind Gleichgültigkeit, niedrige Arbeitsproduktivität, verderbende Böden, aber auch mangelhafte Maschinen. Ein Teil der Ernte versickert auf dem schwarzen Markt, ein anderer Teil vergammelt: es fehlen Speicher, Transportmittel, Einmachgläser - und offenbar auch Kenntnisse über die unterschiedliche Haltbarkeit von Gemüse und Pflastersteinen.

Zu den von Gorbatschow auf dem Plenum attackierten Mängeln gehören auch die Landflucht, eine verrottete Infrastruktur, deren Rekonstruktion die Wirtschaftskraft der SU schier übersteigt, und eine Bauernschaft, der viele Fähigkeiten aberzogen wurden.

Die bisherigen Maßnahmen zur Agrarreform haben nicht gegriffen. Eine der ersten Entscheidungen des neuen Generalsekretärs und Landwirtschaftsexperten Gorbatschow war die Zusammenfassung von 13 landwirtschaftlichen Ministerien und Staatskomitees in einem Superministerium, dem „Gosagroprom“. Wenn Gorbatschow jetzt auf dem Plenum die Auflösung dieser Institution ankündigt, so ist das zugleich ein Eingeständnis für den mangelnden Erfolg der bisherigen Reformbemühungen.

Der brisanteste Konflikt auf dem Plenum dreht sich um die gesetzliche Festschreibung unterschiedlicher, aber gleichberechtigter Eigentumsformen auf dem Land. Bereits im September 1987 wurde die Beschränkung des privat bewirtschafteten Geländes auf 0,5 ha aufgehoben. Autonome Brigaden wurden gestärkt. Sie schlossen selbständige Verträge mit Kolchosen und Sowchosen ab und wurden anteilig entlohnt. Auch Familien konnten Vertragspartner werden. Genossenschaftlich organisierte Privatleute können Land, Vieh, Maschinen und Gebäude von Kolchosen und Sowchosen pachten. Waren diese Pachtverträge zunächst auf 10-15 Jahre befristet, so können aufgrund einer Verordnung seit Juli 1988 auch Verträge auf 50 Jahre abgeschlossen werden.

Geht es auf dem Plenum nach dem Willen der Reformer, soll diese Verordnung jetzt gesetzlich festgeschrieben werden, um die bislang eher schleppende Privatisierung des Agrarsektors zu beschleunigen. Dies könnte einen Prozeß in Gang setzen, an dessen Ende die Auflösung der kollektivistischen Struktur der Landwirtschaft stünde. Denn, wo bislang private Kooperativen arbeiten, kann man sich über mangelnde Effizienz nicht beklagen. Längst sind die fetten Kühe der properen Genossenschaften und die mageren der vergammelten Kolchosen Stereotype der Karikatur.

Neue soziale Konflikte

So bleibt es nicht aus, daß der wirtschaftliche Erfolg der Privatbauern soziale Konflikte schürt. Sie sehen sich mit einer enorm feindlichen Umwelt konfrontiert, werden als „neue Kulaken“ beschimpft. Die Auseinandersetzungen reichen in einzelnen Fällen bis zu Brandanschlägen auf Privatbauernhöfe. Bedroht von der ungegängelten Effizienz der Kooperativen fühlen sich auch die bürokratischen „Leiter“ der Kolchosen bis hinauf in die zentralen Leitungsapparate. Landwirtschaftspolitik ist auf diese Weise auch ein politischer Machtkampf.

Gorbatschow wird - wie so oft - zwischen den radikalen Reformforderungen und den Machterhaltungsinteressen der Konservativen lavieren müssen: Es wäre falsch, so der Parteichef auf dem Plenum, die Notwendigkeit einer grundlegenden Agrarreform zu bestreiten; genau so unberechtigt sei aber auch die Schlußfolgerung, die Kolchosordnung sei uneffektiv. Wenn die Beschlüsse des Plenums ebenso abgewogen ausfallen, wird die Sowjetunion noch eine Weile auf eine leistungsstarke Landwirtschaft warten müssen.

Erhard Stölting