Kanzlerdämmerung

■ Das Tabu der Union ist gebrochen: Jetzt ist Helmut Kohl selber dran

Die Kommentatoren fühlten sich an die Endzeit der sozialliberalen Koalition erinnert, die Wähler -Besänftigungsprogramme, nach den Wahlniederlagen von Berlin und Frankfurt hektisch aufgelegt, sind im Sand des Koalitionsgerangels steckengeblieben. Und der Rebellion seiner eigenen Fraktion hat der Kanzler mit seinem Freudschen Wunsch, „pfleglich miteinander unter(zu)gehen“, das i-Tüpfelchen der Selbstdemontage aufgesetzt.

„Wenn der Kohl mit seinem Befreiungsschlag noch lange wartet, dann trifft der ihn selbst.“ Diese Drohung stieß am Mittwoch ein prominenter Abgeordneter der Liberalen aus, der natürlich nicht mit Namen zitiert werden möchte.

So drastisch hatte es bisher noch niemand formuliert, doch in den Fraktionen von CDU/CSU und FDP gärt es heftig. Immer lauter ist ihr Murren in den letzten Wochen geworden. Der Kanzler solle endlich die Initiative ergreifen, um das arg lädierte Ansehen der Regierung in der Öffentlichkeit aufzubessern.

Nach der Hessen-Wahl mit ihren für die Union verheerenden Ergebnissen war die Stimmung nicht nur in der Bundestagsfraktion auf den Nullpunkt gesunken. Er werde jetzt ganz schnell handeln, hatte Kohl dann auch am Montag abend nach der Wahl versprochen. Und schon am Dienstag wurde zwischen FDP und CDU/CSU fieberhaft verhandelt: über die Erhöhung des Kindergeldes, eine Verbesserung des Erziehungsgeldes, über Bafög, Wohnungsbau und eine Erhöhung des Wohngeldes - eine Menge wichtiger Fragen also (siehe Kasten unten). Die Wogen schienen sich ein wenig zu glätten.

Für den Anfang immerhin etwas, aber nur für den Anfang. „Es muß noch deutlich mehr kommen.“ So hatte ein CDU -Abgeordneter die Koalitionsverhandlungen am Dienstag bewertet. Am Mittwoch schon taugten ihre Ergebnisse nicht einmal mehr als Anfang: Die CDU-Fraktion verweigerte dem Kanzler ihre Gefolgschaft. Sie stimmte gegen den wichtigsten Punkt des Maßnahmepaketes, gegen die Vereinbarungen zur Familienpolitik. Nach fast vier Stunden Fraktionssitzung war klar: Es muß neu verhandelt werden.

Daß Kohl arg gebeutelt werden würde, ließ sich vorher schon absehen: Kurz vor der Sitzung schwirrten Zitate durch den Vorraum des Fraktionssaals, die einen harten Kampf ankündigten: „Lieber gar nichts als so etwas“ - das war zum Beispiel die Meinung der CDU-Abgeordneten Pack zu den Vorschlägen zur Familienpolitik. Und eine Kollegin von ihr erklärte, dagegen werde sie kämpfen bis zum Schluß. Auch Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth kündigte an, diesem Maßnahmepaket werde sie ganz sicher nicht zustimmen.

Nur einer aus der Reformergruppe hatte schon resigniert aufgegeben: Heiner Geißler. Er werde der Vorlage zustimmen sie nicht zu verabschieden würde nur zu schädlichen Diskussionen führen. Einen Durchbruch, einen umfassenden Befreiungsschlag: das hatten die unzufriedenen Parlamentarier von CDU/CSU und FDP dem Kanzler in den letzten Wochen immer drängender abverlangt. Das Maßnahmepaket ist nun alles andere geworden. „Befreiungsschlag - weit gefehlt“, so kommentierte es ein CDU-Abgeordneter.

Nun werden die Forderungen der letzten Wochen wieder aufgekocht werden: „Personelle Entscheidungen, sprich Ministeraustausch, und eine Kabinettsreform - ohne diese beiden Akte wird der Kanzler auf Dauer nicht durchhalten.“ Und: „In vielen Kreisen wird intensiv über Kohl nachgedacht“ - so beschrieb ein CDU-Staatssekretär die für die Regierung immer gefährlichere Stimmung in den Koalitionsfraktionen. „Viele Kreise“ - das bedeutet, fast alle sind unzufrieden.

Und die Anforderungen an Kohl sind nicht von Pappe: Regierungssprecher Ost, Familienministerin Lehr, Verteidigungsminister Scholz, Finanzminister Stoltenberg so war vorgestern aus Unionskreisen zu erfahren - stehen in dieser Reihenfolge auf der Abschußliste. Gesägt wird auch an den Stühlen von Innenminister Zimmermann und Wohnungsbauminister Schneider. Doch die Ungeliebten abzusetzen würde für Kohl nicht leicht sein: Zwei (Lehr und Scholz) hat er - teilweise gegen erheblichen Widerstand selbst durchgedrückt. Bei zwei anderen (Zimmermann und Schneider) müßte die CSU mitspielen, und ob die dazu bereit ist, scheint alles andere als gewiß.

Die von Kohl vage angekündigte Strukturreform des Kabinetts wird kaum mehr sein als harmloses Baldrian für die heftig beunruhigten Parlamentarier. Zumal sie in der Hauptsache nicht mehr hervorbringen soll als ein neues Europa - oder ein Zukunftsministerium. Und so sind dann auch jene, die den Ministeraustausch und die Reform fordern, keineswegs besonders optimistisch, daß dies der Regierung wieder auf die Beine helfen würde.

Was denn eine Kabinettsumbildung wirklich Entscheidendes bringen würde, fragt ein FDP-Präsidiumsmitglied. Und auch ein Staatssekretär von der CDU meint: Kohl habe ja schon ein paar Mal die Chance gehabt, Umbildungen vorzunehmen, mit denen er die Gemüter beruhigt hätte. Er habe sie aber vertan.

Die CDU-Rechten werfen den -Linken vor, sie nähmen der Partei ihr national-konservatives Profil und vergraulten die Wähler rechts der rechten Mitte. Die „Reformer“ sehen die Schuld bei der CSU; die häufe alle Asche auf Geißlers Haupt, dabei wüchsen die größten Probleme in ihren Ministerien. Dem Innenministerium, das in der Asyl- und Ausländerfrage bellt, aber nicht beißt - spricht, nicht handelt. Und dem Wohnungsbauministerium, das aber auch nichts aus der Ruhe bringt. Jeder ist schuld und keiner kann was dafür. Ein CDU -Abgeordneter formulierte es ungefähr so: Keiner der Führenden habe ihm das momentane Dilemma der Union schlüssig erklären können, und eine einsichtige Strategie, um aus der Lage wieder herauszukommen, habe offensichtlich auch niemand.

Ferdos Forudastan