K O M M E N T A R Planierte Erinnerung

■ Verwesungsfrist für Gedächtnis an Nazi-Opfer (S.28)

Für die Verwesung einer menschlichen Leiche kalkulieren bundesdeutsche Behörden in der Regel 25 Jahre ein. Das Andenken an vorverstorbene Angehörige hat sich nach dem Zeitbudget des chemisch-physikalischen Prozesses ihrer Zersetzung zu richten: Auf deutschen Friedhöfen erlischt nach 25 Jahren das Ruherecht. Auf Antrag wird Verlängerung gewährt.

In Delmenhorst haben eine katholische und eine evangelische Gemeinde diese makabre, aber vermutlich unvermeidliche Limitierung jetzt um einen weiteren Aspekt erweitert. In Delmenhorst erlosch nach 25 Jahren automatisch auch die Erinnerung daran, daß auch in Delmenhorst Nazis gewohnt haben und daß auch die Delmenhorster Nazis polnische ZwangsarbeiterInnen für die Verlängerung des Krieges gegen ihr Land arbeiten ließen. Daß sie daran starben, war auch nach der Entnazifizierung aller Delmenhorster Nazis kein Grund, sich ihrer Opfer zu erinnern. Stattdessen schickten die Delmenhorster von heute Planierraupen über die Gräber ihrer Opfer von damals. Sollten 50 Jahre nach dem deutschen Einmarsch in Polen polnische Mütter die Gräber ihrer Kinder suchen, sie fänden keines mehr. Delmenhorst, das ist sicher, ist kein Einzelfall.

Klaus Schloesser