REISEUNKULTUR

■ Zarte Pflänzchen des Aufbruchs wider die touristische Endzeitstimmung

Wenn es so weitergegangen wäre im Verhältnis von Reisenden und Bereisten, dann wäre das eingetreten, was ich polemisch als Lemmingverhalten der Tiroler und Älper bezeichnet habe: blind, Hauptsache viel Geld, Hauptsache die Gäste gut melken, in den letzten Jahren mit verfeinerten Melkmethoden.“ Dr. Hans Haid, Volkskundler, Tourismuskritiker und Literat in Personalunion, hält mit seiner harschen Abrechnung der alten Reisekultur nicht hinter dem Berg. Seine Heimatgemeinde Sölden im tirolischen Ötztal vollführt einen touristischen Hochseilakt mit Absturzgefahr: 2.500 Dorfeinwohner stehen 1,6 Millionen Nächtigungen in 10.000 Fremdenbetten sommers wie winters gegenüber. Schüler, die sensibelsten Seismographen der Auswirkungen des Tourismus auf die einheimische Bevölkerung, so berichtet Haid, hätten bei Befragungen fast ausschließlich negativ geantwortet: Tourismus bringe Zerstörung der Familie, zu wenig Freizeit, Liebesentzug...

Doch nicht mehr der Advocatus Diaboli ist gefragt, der die Mängelerscheinungen touristischer Übererschließung auf die Begegnung und Verständigungsmöglichkeiten zwischen Reisenden und Bereisten dacapo-artig anprangert, sondern der positiv denkende Trendsetter „auf der Suche nach einer neuen Reisekultur“. So der Titel einer Diskussionsveranstaltung des „Kirchenforums“ auf der „Internationalen Tourismus -Börse“ (ITB) Anfang März in Berlin, veranstaltet von der Katholischen Arbeitsgemeinschaft Freizeit und Tourismus.

Aufbruchstimmung statt touristischer Endzeitstimmung. Weg von apokalyptischen Visionen, hin zum Aufspüren von „positiven Ansätzen“ und Sammeln von „zarten Pflänzchen“ auf dem beschwerlichen Weg zu einer neuen Reisekultur. Ist Reisen als Instrument der Begegnung und Verständigung möglich? Diese Frage, bei Gott nicht neu, sondern so alt wie der Massentourismus selbst, beschäftigte das Forum. Dr. Haid, bis vor kurzem noch Fundamental-Skeptiker, registrierte, „daß in den letzten drei bis vier Jahren ein ganz interessanter, vielleicht sogar entscheidender Umdenkprozeß eingesetzt hat“. Seine Ursachen: erstens die jahrelangen Rückgänge der Sommernächtigungen und zweitens das starke Echo in den Medien über die Defizite der gesellschaftlichen Großveranstaltung Tourismus.

Für Dr. Albrecht Steinecke (Uni Bielefeld) ist die Diskussion über die Völkerverständigung auf Reisen viel zu lange viel zu allgemein gelaufen. In den fünfziger und sechziger Jahren hätten die Veranstalter die „Völkerverständigung“ als Anspruch formuliert. Doch schon bald klaffte der hehre Anspruch mit der rauhen Wirklichkeit in den Fremdenverkehrsgebieten auseinander. Die Leistung der Tourismusforschung und -kritik war es gewesen, diesen Widerspruch deutlich zu machen. Im Umkehrschluß aber hieß das: Tourismus ist kein Instrument der Völkerverständigung. Heute sieht Steinecke positive Ansätze vor allem bei interessierten Urlaubern, die nicht mehr dem massentouristischen Herdentrieb - Augen zu und durch anhängen würden: „Ich finde, nicht alle Urlauber sind Schafe oder umgekehrt: Auch bei Schafen gibt es verschiedene Rassen, Hochlandschafe und Flachlandschafe. Es gibt sicherlich das Strandschaf, aber daneben auch das Kulturschaf.“

„Eindrücke, Entdeckung, Bildung“ sind nach der Reiseanalyse des Studienkreises für Tourismus das drittwichtigste Motivbündel bundesdeutscher Urlauber. 94 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung meinen, so eine andere Studienkreis-Untersuchung, daß man auf einer Urlaubsreise die Sitten und Gebräuche der Einheimischen respektieren und auf ihre Gefühle Rücksicht nehmen solle. Diese Touristen -Einsicht scheint auch bitter nötig, denn in vielen Tourismuszielgebieten wachsen Unmut und Kritik der einheimischen Bevölkerung bis hin zum „Aufstand der Bereisten“. Trotz ihrer ökonomischen Abhängigkeit vom Tourismus entwickeln die Bereisten vielerorts ein gesteigertes Selbstbewußtsein. Peter Huppert (Fremdenverkehrsverband des Landkreises Mayen-Koblenz) berichtete über die Verlängerung der Saison durch Tagungs und Kongreßgeschäfte in Grömitz: „Die Leute dort sagen: 'Jetzt kommen unsere Schützenfeste, und es sind immer noch Gäste da. Jetzt ist aber Schluß!‘ Wieviel Erholungszeit“, fragte Huppert, „braucht jeder Urlaubsort eigentlich, um zwischen den Saisons wieder zu sich zu kommen?“

Eine neue Moral sei die Voraussetzung für eine neue Kultur des Reisens. Dies könne aber ohne Leistungsdruck nicht entstehen, meinte ein Publikumsteilnehmer. Die Spannung des Herr-Diener-Verhältnisses zwischen Gast und Gastgeber („Ich bin ich und brauche meine Streicheleinheiten; die anderen sind die Kulis für meine Urlaubsfreude“) müsse entspannt werden in Richtung auf eine soziale Gleichstellung. Nicht eine Abschreckungspädagogik mit Verurteilungen, sondern eine Vorbildspädagogik gelungener Modelle sei vonnöten.

„Ein offenes Wort!“ heißt es in vielen Reisekatalogen; dann folgt ein Negativ-Katalog (Baulärm, Wassermangel) des Veranstalters für seine Klientel. „In der Hauptferienzeit finden Sie viele jugoslawische Familien am Strand“, zitiert Diskussionsleiter Dr.Wolfgang Isenberg aus einem Reisekatalog '88. Hinweis auf die völkerverbindende Chance eines jugoslawisch-deutschen Strandburgenbauens? In der radikalen Umgestaltung der Prospekte sieht Dr.Haid eine der wichtigsten Operationsbasen für eine neue Reisekultur. „Zu 99 Prozent sind die Prospekte klischeehaft und erlogen. 200 Jahre lang hat man das Klischeebild der Alpen geprägt: Leute, die jodeln, eine Tracht anhaben, ein starkes und mutiges Volk sind.“ Dieses Katalogbild hätte bei den Gästen zu einem bestimmten Erwartungsfolklorismus geführt, dem die Einheimischen wie selbstverständlich mit einem Erfüllungsfolklorismus begegnet seien. „Der Musikantenstadl“ mit Alpin-Dodel, damit müsse endlich Tabula rasa gemacht werden, fordert Dr.Haid. Erst dann könnten die vereinzelten zarten Pflänzchen einer neuen Reisekultur sprießen, die er in den letzten Jahren aufgespürt hat (einige Touristenmodelldörfer, eine angepaßte Tourismusarchitektur, genossenschaftlich geführte Hotelbetriebe, neue Vermittlungsformen von einheimischer Kultur und Geschichte bei der Gästebetreuung).

Für die Reisepädagogik bedeutet dies, resümiert Dr.Steinecke, die vorhandenen positiven Ansätze über Inhalte und nicht über Vebote und Gebote zu vermitteln. Dabei gelte es, „die Trends herauszustellen, die auf das gegenseitige Verständnis hinauslaufen, und weniger den lustfeindlichen Verbotscharakter betonen.“

Günter Ermlich