Modell Deutschland gescheitert?

 ■  Von Jürgen Gottschlich

Berlin (taz) - Eigentlich hatten es sich alle ganz einfach vorgestellt - 1989, das Jahr, in dem die bundesdeutsche Republik ihr 40jähriges Jubiläum feiert und sich dabei vorzugsweise auf die eigene Schulter klopft: Wirtschaftswunder, Aufstieg, Stabilität. Vor allem letzteres gilt als Modell Deutschland, in dem Schwankungen nur graduell im Dreieck Union, Sozialdemokratie und dem Mehrheitsbeschaffer FDP möglich sind.

Es war sicherlich anders gedacht, als die SPD sich daran machte, Godesberg durch ein neues Grundsatzprogramm abzulösen. Jetzt, mit der Entstehung einer rechtsradikalen Bewegung, die sich parlamentarisch festsetzt, scheint das neue Programm wie die Ouvertüre zu einer neuen Ära bundesdeutscher Politik. Die Politik der Mitte verliert ihre Hegemonie.

Eingeleitet wurde dieses bundesdeutsche Politikmodell 1959 in Godesberg. Mit dem Godesberger Programm verabschiedete sich die SPD von ihrer Geschichte als Klassenpartei und antizipierte die Wünsche des Konsumbürgers, der Klassenbewußtsein und feste gesellschaftliche Stellung längst hinter sich gelassen hatte. Der Abschied vom Proletariat war die strategische Voraussetzung, um in einer soziologisch völlig veränderten Konsumgesellschaft, die fest in das westliche Bündnis integriert ist, Regierungspartei werden zu können. Zehn Jahre später, 1969, war es soweit: Die SPD hatte die Mitte erobert. Konsequent mit der Verdrängung der gesellschaftlichen Utopie aus dem SPD -Grundsatzprogramm erfolgte die Ausgrenzung der Linken aus der Partei. Deutlicher Ausdruck davon war der Ausschluß des SDS und der spätere Radikalenerlaß unter Brandt. Von 1959 bis 1979 fehlte der bundesdeutschen Linken eine parlamentarische Entsprechung. Mit der Großen Koalition von 1966 bis 1969 kam die APO und - was vielfach wieder verdrängt wurde - auch die NPD. Bereits 1966 schaffte die NPD den Sprung in zwei Landtage, in Hessen (7,9 Prozent) und - trotz Strauß - in Bayern (7,4 Prozent). Bis 1968 saß sie in insgesamt sieben Landtagen. Zwei Faktoren wurden damals für die parlamentarische Wiedergeburt der neonazistischen Rechten verantwortlich gemacht: die Wirtschaftskrise und die Große Koalition, durch die die CDU/CSU Integrationsprobleme nach rechts bekamen. Einen ersten Einbruch erlitt der Siegeszug der Neonazis, als sie mit 4,3 Prozent den Einzug in den Bundestag bei der Wahl 1969 knapp verfehlten. Die Karten wurden neu gemischt, die Union landete erstmals in der Nachkriegsgeschichte in der Opposition und schaffte es binnen drei Jahren, die Wähler der NPD wieder zu reintegrieren. Der braune Spuk schien vorbei. Angetreten war die NPD 1966 mit Parolen wie „Der Raub uralten deutschen Volksbodens und die Teilung Deutschlands sind Teil einer Gewaltaktion.“ Im Bundestagswahlkampf propagierte die NPD eine Generalamnesty „für alle Angeklagten und Verfahren aus dem Zweiten Weltkrieg“, keine Anerkennung der Oder-Neiße -Grenze, keine Anerkennung der DDR: Parolen, die sich vor allem an die Adresse der Ewig-Gestrigen richteten und auch in weiten Kreisen der CDU/CSU auf Zustimmung stießen, die sich nur innerhalb der Großen Koalition nicht entsprechend artikulierte. Das änderte sich schlagartig nach Etablierung der sozial-liberalen Koalition. Die Vehemenz, mit der die Union gegen Brandts Politik der Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn zu Felde zog, machte die NPD in den Augen ihrer Wähler weitgehend überflüssig. Den internen Richtungsstreit um die Anerkennung der Realität der Nachkriegsgeschichte machte die Union im folgenden Jahrzehnt vor allem in der Opposition aus. Für revanchistische Parteien am rechten Rand blieb da wenig Platz.

Politische Zäsur ist fällig

Die politische Zentrierung auf die Mitte war nicht in Frage gestellt. Das korrellierte auch mit Stil und Inhalt Bonner Politik nach Brandt. Pragmatismus, Handwerk, Krisenmanagement und die Fortschreibung des Status quo gingen einher mit der Verdrängung epochaler Fragen wie der fortschreitenden Umweltzerstörung und der katastrophalen Zuspitzung der Aufrüstung. Über zehn Jahre nach Entstehung der Grünen schaffte es das Kartell der Mitte, Konsequenzen aus diesen Fragen zu verweigern. Im vierzigsten Jubeljahr der Republik scheint eine politische Zäsur fällig zu sein.

Katalysator dieser Entwicklung sind ausgerechnet die Rechtsradikalen. Was den Grünen allein nicht gelang, steht nun durch den Aufbruch des rechten Lagers bevor: Die mit dem Godesberger Programm der SPD eingeleitete und mit der Bildung der Großen Koalition vollzogene Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners, die die politische Landschaft in den letzten Jahrzehnten dominiert hat, ist im Begriff zu zerfallen. Die Integrationskraft der beiden Großparteien, erkauft mit dem Verzicht auf politische Richtungsentscheidungen, die immer auch zu Polarisierungen führen, ist am Ende. Daß die neue Rechte nicht nur eine vorübergehende Erscheinung auf Kommunal- und Landesebene ist, wird in den beiden großen Parteien kaum noch bestritten. Zu Recht, denn die jetzige Situation ist mit dem NPD-Zwischenspiel Ende der 60er Jahre nicht zu vergleichen. Zum einen steckt die BRD nicht in einer Wirtschaftskrise, zum anderen hat sich die Struktur der neuen Rechten gewandelt. Trotz Schönhubers Bekenntnissen zur Waffen-SS geht es den „Republikanern“ nicht mehr vordringlich um eine Revision der deutschen Nachkriegsgeschichte, sondern um die „deutsche Identität“ schlechthin. Der Rassismus der „Republikaner“, NPD und DVUler findet seine Nahrung nicht nur durch die hier lebenden ImmigrantInnen sondern perspektivisch auch durch die europäische Integration.

Schwarzbraun gegen Rot-Grün

Schon deshalb setzen SPD-Vize Lafontaine wie auch führende CDUler zumindestens für die „Republikaner“ bereits jetzt ein stabiles Wählerpotential voraus. Der rheinland-pfälzische Stammhalter für Kohl, Ministerpräsident Wagner, denkt bereits laut über mögliche Koalitionen mit den „Republikanern“ nach. Damit wäre eine der beiden Alternativen für die zukünftige bundesdeutsche Parteienlandschaft bereits fest umrissen: Schwarz-Braun gegen Rot-Grün. Noch versuchen die klügeren Leute innerhalb der Union sich gegen eine solche Entwicklung zu stemmen. Geißler, Späth und andere wissen, daß sie auf der Seite der dumpfen Deutschtümelei auch im Europa des Kapitals langfristig nichts gewinnen können. Dennoch, der Modernisiererflügel der Union hängt in der Luft. Bislang spricht alles gegen die Annahme, daß die FDP die Stimmenverluste der CDU nach rechts wettmachen könnte, um die Fortsetzung der gegenwärtigen Koalition zu ermöglichen. In der FDP gehen die Überlegungen zur parlamentarischen Überlebensstrategie sowieso in die andere Richtung. Um nicht zwischen den beiden sich jetzt herauskristallisierenden Polen aufgerieben zu werden, wollen die FDP-Strategen dem Wähler 1990 eine Neuauflage von Sozial-Liberal statt Rot -Grün anbieten. Bleibt die Frage, wie die SPD sich dazu verhalten wird. Noch ist allenthalben das Bemühen erkennbar, sich vor einer Entscheidung zu drücken. Hauffs hilfloser Versuch, einen Drei-Parteien-Magistrat zu etablieren, gehört genauso wie Vogels Angebote an die CDU, eine gemeinsame Ausländerpolitik zu formulieren, zu den Versuchen, die Politik der Mitte noch einmal zu stabilisieren. Taktisch mag das verständlich sein, politisch klug ist es nicht. Dringend notwendige grundsätzliche Veränderungen in der Umwelt und Friedenspolitik sind im Konsens nicht zu haben. Gesellschaftliche Alternativen zeichnen sich klar ab - die SPD wird in diesem Jahr entscheiden müssen, ob sie Politik machen will, oder den Status quo verwalten.