Der böse Junge zerstört alle Träume

Eiskunstlaufen: Die Duchesnays gewinnen neben der Gunst des Publikums wenigstens Bronze  ■  Aus Paris Thomas Schreyer

Wer sind die Sieger? Formell waren Isabelle und Paul Duchesnay nur Dritte hinter den vom Publikum fast übergangenen Sowjets Klimova/Ponomarenko und dem Paar Usova/Zhulin, die etwas mehr Beachtung fanden. De facto hatten die rund 7.000 Zuschauer das aus Kanada stammende und für Frankreich startende Geschwisterpaar zur Nummer Eins im Kampf um die Weltmeisterschaft im Eistanzen erklärt.

„Die Reaktionen des Publikums“, erläutert der 27jährige Paul polyglott auf englisch, französisch und deutsch, „war uns wichtiger als jede Medaille.“ Was sei das denn schon: Gold, Silber, Bronze? Wenn das Publikum so mitgehe wie in Paris, dann sei das „genau das, was einen Eiskunstläufer zum Weitermachen animiert“. Die um drei Jahre jüngere Schwester Isabelle registrierte schon vor dem Wettkampf, wie das Publikum tobte, ja raste, als sich die beiden nur zum Einlaufen auf dem Eis befanden. Sie bewegte das noch viel mehr als den immer cool wirkenden Bruder.

Schließlich fühlte sie sich „verantwortlich“ für das Gelingen der Vorführung. Isabelle war lange Zeit verletzt und konnte erst an den Weihnachtsfeiertagen das Eis wieder betreten. „So habe ich uns in der Vorbereitung zurückgeworfen“, nimmt sie eine - nicht vorhandene - Schuld auf sich und erwähnt nicht, daß Verletzungen und Unterbrechungen in der Karriere der beiden nahezu „auf Gegenseitigkeit“ beruhen: der Bruder war Isabelle schon einmal mit den Schlittschuhen über die Hände gefahren, was eine lange Trainingspause nach sich zog.

Um so größer muß der Erfolg gewertet werden, bei einer derart kurzen Vorbereitungszeit. Und so sind nun auch für die Geschwister „die ganzen Mühen, die Schwierigkeiten, die wir hatten, vergessen“. Sie meinten damit nicht nur ihre physischen Handicaps. 1987 traten sie bei den Europameisterschaften in Prag mit ihrem „Urwaldtanz“ in Szene und belegten einen dritten Platz: die Kampfrichternoten zogen sich auseinander wie eine ausgediente Ziehharmonika, sehr zum Mißfallen des Publikums. Und die folgenden Wettkämpfe boten stets dasselbe Bild: konservative Schiedsrichter drückten die Wertung, auf den Rängen wurde gepfiffen und geschrien.

Die Zuschauer forderten die Duchesnays, weil sie Neues boten, aus der Langeweile chauvinistischer Verhaltensrollen ausbrachen, die die Erfolgreicheren trotz aller technischer Perfektion durch ihre Kür zogen: Der Mann umwirbt die Frau, die ihm dann spätestens nach vier Minuten und zehn Sekunden zu Füßen liegt.

Die Duchesnays brachen nicht nur mit der Langeweile, sondern auch mit den starren Regeln. In Paris wurde ihr Originalprogramm bemängelt, weil „das alles nur Show ist und Revue, aber mit Charlston nichts zu tun hat - höchstens der Hut“. Aber der sei nicht erlaubt. Er gehöre zu den Accessoires, die verboten, aber doch nicht genau definiert sind. In der Kür wagten die beiden dann neue Hebefiguren, in der Musik fehlte den Richtern der „typische Tanzrhythmus“, und die aufrechte Haltung lasse stets zu wünschen übrig.

Obwohl die Duchesnays überwiegend in Oberstdorf trainieren, wo sich auch immer wieder Christopher Dean blicken läßt, der legendäre Eistänzer, um Übungen mit den beiden auszuarbeiten, durften sich die Franzosen in Paris heimisch fühlen. Wenn auch das Publikum, wie es in den Entscheidungen der Tage zuvor bewiesen hatte, keinesfalls nationalistisch gesinnt war, hat es hier bestimmt etwas nachgeholfen, hat durch das ständige Verlangen nach „ihrem“ Paar und der Höchstnote sechs sicherlich den Kampf mit beeinflußt. Andernorts wären die Reaktionen aber sicher nicht weniger heftig ausgefallen.

Was für ein Glück auch für den französischen Verband, der um die Duchesnays vor der WM noch so ein Theater gemacht hatte: Nachdem der PR-Rummel immer größer wurde, erhielten die Geschwister plötzlich Startverbot für ein Schaulaufen in Zürich. Begründung: Sie müßten zuerst einmal in Frankreich laufen. Anfang Februar untersagten die Verbandsoberen sogar jegliche Interviews, außer mit der französischen Presse.

Obgleich sie bis Paris erst einen internationalen Erfolg hatten verbuchen können (EM-Dritte 87), mußten sich die Duchesnays ja schon als Stars fühlen und schienen ihr Verhalten auch danach richten zu wollen: Interviews und Fototermine wurden, unabhängig von der Intervention des Verbandes, verschoben oder abgewiesen, bis im Monat vor der WM Brunhilde Maassen, die Lebensgefährtin des Duchesnay -Choreographen Martin Skotnicky, bestellen ließ, das Paar würde sich „nur noch gegen Bezahlung“ außerhalb der Eisfläche zeigen.

Warum sie dann nicht gleich zu den Profis gehen, das ganz große Geld zu machen? „Es bereitet uns viel Spaß, bei den Amateuren zu laufen, und wir wissen nicht, ob für uns schon die Zeit gekommen ist, Profis zu werden“, sagt Paul. Schon in der nächsten Woche aber kann die Entscheidung fallen: 'Holiday on Ice‘ soll ein Angebot von einer halben Million Francs gemacht haben; 80.000 Francs zuzüglich Reisekosten würde der Verband pro Saison bis zu den olympischen Spielen 1992 in Albertville bezahlen. Und als Belohnung für den dritten Platz gab es schon mal einen Scheck über 35.000 Francs.

Wie die Entscheidung auch ausfallen mag, die Duchesnays sind eine Bereicherung für das Eiskunstlaufen. Diesmal lautete das Thema ihrer Kür „Zwischen Traum und Wirklichkeit“. In atemberaubender Perfektion gelang es ihnen, ihre Gedanken bildlich darzustellen: Isabelle, ganz in Weiß, stellt ihre eigene Welt dar, einen Traum, den sie leben will. Paul, ganz in Schwarz als die Realität, läßt dem Traum keine Flügel wachsen, holt Isabelle herunter, wenn sie aufsteigen will, beschränkt sie, wenn sie frei sein will. Doch Paul, die Wirklichkeit, ist nicht immer nur der Bezwinger: mitunter läßt er sich einholen vom Traum, von der Phantasie, läßt sich benebeln und einwickeln - bis die Realität wieder erwacht.

Kein Wunder, daß Isabelle ihn in dieser Rolle „den bösen Jungen“ nennt.