Jelzin mobilisiert die Moskauer

■ Spontane Demonstration von rund 10.000 Anhängern des gestürzten Moskauer Parteichefs zum Roten Platz / Kundgebung für ein Mehrparteiensystem in der UdSSR / Empörung über Parteiverfahren gegen Jelzin

Moskau/Berlin (wps/afp/taz) - Boris Jelzin geht in die Offensive: Gestern mittag marschierten in Moskau 10.000 seiner Anhänger zum Roten Platz, um dort unter den Augen von Kreml-Chef Gorbatschow gegen ein Parteiverfahren „auf Linientreue“ zu protestieren, das am Donnerstag gegen den abgesetzten Moskauer Parteichef und radikalen Reformer eingeleitet worden ist.

Die Demonstranten entschlossen sich spontan zu der Kundgebung, als die Behörden ein Treffen der legalen antistalinistischen Gruppe „Memorial“ und der inoffiziellen „russischen Volksfront“ im Gorki-Park verboten hatten. Starke Polizeikräfte hatten die zum Kreml führende Straße abgesperrt, so daß der Zug zum Rathaus marschierte, wo die Demonstranten ein Treffen mit Jelzins Nachfolger Lew Saikow forderten. Dort fragte ein Redner die Menge, ob sie einem Streik für den Fall zustimme, daß Jelzin am kommenden Sonntag nicht in den Kongreß der Volksdeputierten gewählt werde. Die Demonstranten signalisierten darauf per Handzeichen ihre Zustimmung.

Bereits am Samstag nachmittag hatte Jelzin auf einer der größten inoffiziellen Kundgebungen in Moskau seit der Oktoberrevolution ein Mehrparteiensystem als wünschenswert bezeichnet. Er warnte die Partei davor, sich von der Bevölkerung zu entfernen.

Obwohl die Wahlveranstaltung Jelzins nicht angekündigt war, erwarteten ihn 15.000 Moskowiter, die bis zu den Knöcheln im Morast des Vororts Bratejewo im Südwesten der sowjetischen Hauptstadt standen, um ihren Helden zu hören. Sie wurden nicht enttäuscht. „Weshalb gibt es die Partei? Um dem Volke zu dienen! Viele Leute vergessen das aber“, rief Jelzin, und die Mauern der umliegenden Hochhäuser warfen seine Angriffe als Echo zurück, unüberhörbar auch für das Zentralkomitee der KPdSU. Am Donnerstag erst hatte es ein Parteiverfahren gegen den Volkstribunen eingeleitet, weil er die Einführung eines Mehrparteiensystems gefordert habe. „Ich weiß nicht, womit sich die Parteikommission beschäftigen wird“, sagte Jelzin, während die Menge das Zentralkomitee ausbuhte, „mein Gewissen ist rein - vor dem Volk, vor den Menschen und vor dem Land. Denn ich habe nichts Antisowjetisches, nichts Volksfeindliches getan.“

Der Applaus wurde ohrenbetäubend, als Jelzin erklärte, er trete nachdrücklich für eine Diskussion in den Medien über die Zulassung mehrerer Parteien ein. Nach einem oder anderthalb Jahren sollte man dann „die Gesellschaft nach ihrer Meinung befragen“. Fortsetzung Seite 2

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Unter Hohnrufen der Anwesenden berichtete Jelzin, daß sein Erzfeind, der jetzige Landwirtschaftsminister Jegor Ligatschow, bei der Nominierung der 100 der Partei zustehenden Kongreßdeputierten die wenigsten Stimmen erhalten habe: „Hätte es 101 und nicht 100 Bewerber gegeben, wäre Ligatschow nicht durchgekommen.“ Die Moskauer Zeitungen vom gestrigen Sonntag haben diese Angaben bestätigt. Danach stimmten auch zwölf Personen gegen Gorbatschow, der dennoch nach Ministerpräsident Ryschkow (zehn Gegenstimmen) die populärste Person im Politbüro ist.

Vergangene Woche hatte die neugegründete Zeitschrift 'Neuigkeiten des Zentralkomitees‘ die Rede von Jelzin vor dem ZK-Plenum im Oktober 1987 veröffentlicht, die ihn seinen Sitz im Politbüro gekostet hatte. Darin hatte Jelzin die Parteibürokraten scharf angegriffen und ihnen

„Schmeicheleien“ gegenüber Gorbatschow vorgeworfen. Der Reformkurs des Parteichefs selbst sei nicht bei der Bevölkerung angekommen. Die Rede hatte eine vierstündige Debatte ausgelöst, die bisweilen an die Schauprozesse der dreißiger Jahre erinnerte. Die Veröffentlichung sollte den Wahlkampf Jelzins behindern. Wie das Wochenende jetzt aber gezeigt hat, hatte sie den entgegengesetzten Effekt: der 58jährige ehemalige Bauingenieur ist in Moskau populärer als je zuvor.

Boris Jelzin stellt die Parteiführung vor ein völlig neues Problem. Nie zuvor in der sowjetischen Geschichte ist es einem wegen Radikalismus geschaßten Parteiführer gelungen, in die aktive Politik zurückzukehren, und nie zuvor hat ein Insider der Nomenklatura seinen Kampf um die Partei unter dem Banner des Populismus geführt. „Jelzin ist der wichtigste Kandidat, denn er ist mit der Parteipolitik nicht einverstanden und hat keine Angst zu kämpfen“, meint ein Student der Technischen Hochschule, der mit

dem Bus zur Kundgebung gekommen war. Kein anderer Kandidat wurde in den Vorwahlen der letzten Wochen so oft nominiert wie Jelzin.

In der Menge vor dem Supermarkt von Bratejevo zweifelte am Samstag niemand daran, daß eine eventuelle Wahlniederlage Jelzins am nächsten Sonntag nur eines beweisen würde: die Manipulation der Wahlen durch die Parteiinstanzen.

smo