Nie wieder betteln müssen

■ Recycling-Hof stellt 10 „Langzeitarbeitslose“ ein / Ein Jahr Arbeit für die eigene „Reintegration“ / Mögliche Perspektive: Umschulung zum Facharbeiter / Sozialsenator will auf 400 Stellen aufstocken / Warteliste jetzt schon länger

Siegfried W., 46 Jahre alt, ledig, keine Kinder, ohne festen Wohnsitz, bis gestern ohne feste Arbeit. Siegfried W., im Amtsdeutsch „nichtseßhafter Langzeitarbeitsloser“, bekam gestern Besuch von einem seßhaften Beschäftigten: Siegfried W. traf Bremens stellvertretenden Bürgermeister Henning Scherf.

Grund des Zusammentreffens laut Ankündigung der Senatspressestelle: Der 20. März 1989 sollte zu „einem der wichtigsten Tage im Leben“ des Siegfried W. werden. W. sollte erstmals seit langem wieder einen gültigen Arbeitsvertrag bekommen. Vier Seiten lang, mit Tariflohn (rund 2.000 Mark), Probezeit, 40 Stunden-Woche, Regelung von möglichen Dienstreisen, vermögenswirksamen Leistungen, Lohnfortzahlungen im Krankheitsfalle und auch sonst allen Tarif-Schikanen. Tatsächlich eine Besonderheit im 46 -jährigen, gar nicht so besonderen Leben des Siegfried W.

Mit drei Jahren verlor W. seinen Vater, mit 20 seine Mutter, dann seine Arbeit als Landarbeiter im heimischen Dorf. Von heute auf morgen mußte W. den Hof verlassen mußte. Als er krank wurde, war die Krankenkasse nicht zuständig. W.'s Arbeitgeber hatte die Beiträge nicht gezahlt. Als er seine Arbeit verlor, war das Arbeitsamt nicht zuständig. W.'s Arbeitgeber hatte die Versicherungsprämien nicht gezahlt. Als ihn das „Schicksal“ (W. 's Lieblingswort, wenn er über sein bisheriges Leben erzählt) nach Bremen verschlug, fühlte sich das Sozialamt zunächst nicht zuständig. W. war kein Bremer. Man bot ihm die Kosten für eine Fahrkarte nach Hause an. Für das Sozialamt die billigste Lösung. Für W. keine. Zu Hause - da kam er schließlich her. W. landete im Bremer Obdachlosen-Wohnheim Jakobushaus. Dort suchte man nicht nur ein Bett für ihn, sondern auch eine neue Chance. Mit Erfolg.

Ein Jahr lang wird Siegfried W. jetzt in einer Werkstatt des Recycling-Hofs Findorff vertragsgemäß Kompostbehälter bauen, verfügbar in Größen zwischen 200 und 600 Litern, abzugeben an kommunale Einrichtungen gegen Materialkostenbeteiligung und Privatleute gegen einen kleinen Zusatzaufschlag. Besonderer Clou der von Siegfried W. und neun gestern gleichfalls neueingestellten Kompostbehälter- bauern gebauten Kompostbe hälter: Die Temperatur im Innern. Selbst im Winter herrschen bis zu 70 Grad hinter den dicken Styropor-Isolierungen. Küchenreste und Gartenabfälle, die üblicherweise zwei bis drei Jahre für ihren Weg zu Kompost brauchen, können so schon nach sechs bis acht Monaten als Dünger eingesetzt werden. Eine ökologisch sinnvolle Arbeit also.

Eine sinnvolle Perspektive

verspricht sich Sozialsenator Scherf auch für Siegfried W. und seine neun neuen Kollegen. Auch sie sind alle lange Zeit arbeitslos und obdachlos gewesen und wohnen zur Zeit im Jakobushaus. Ihre neuen Arbeitsstellen sind sogenannte „Paragraph-19-Stellen“. Ein Jahr lang trägt das Sozialamt für sie die Lohnkosten. Vorzug für das Sozialamt: Nach dem Jahr ist das Arbeitsamt wieder für die Stelleninhaber zuständig, muß

notfalls Arbeitslosengeld bezahlen. Sozialsentor Scherf und den „Bremer Jugendwerkstätten e.V.“, die formell den „Arbeitgeber“ spielen, wäre allerdings eine andere Lösung noch lieber: Mit finanzieller Unterstützung des Arbeitsamtes sollen zumindest die jüngeren möglichst nach der auf ein Jahr befristeten Arbeit auf dem Recycling-Hof eine Umschulung machen und eine richtige Facharbeiter-Ausbildung erhalten. Wenn die „Kompostbehälter“ sich zu einem Marktrenner entwickeln - und nach den bisherigen Bestellungen sieht es danach aus -, sollen die älteren nach dem Jahr möglichst eine Festanstellung bekommen.

Insgesamt 200 solcher Einjahres-Verträge für schwer vermittelbare Langzeitarbeitslose hat das Sozialamt bislang vergeben. Siegfried W. und seine neun Kollegen sind der 201 bis 210. Insgesamt will Scherf das Programm in diesem Jahr auf 400-§-19 Stellen ausbauen. Die Warteliste allerdings ist schon jetzt weitaus länger. Hunderten geht es in Bremen wie Siegfried W.

W.'s wichtigster Zukunftsplan: Eine eigene Wohnung und nie wieder Betteln müssen. Und dann noch: Nie wieder auf Behörden angewiesen sein.

K.S.