Torball - ein Sport auch für Sehende?

Impressionen von den Deutschen Torballmeisterschaften der Blinden / Lausige Bedingungen  ■  Von Stefan Zauner

Als ich die Eingangshalle der Lichterfelder Sporthalle betrete, glaube ich, auf einem Londoner Bahnsteig zu sein, solch ein Gedränge herrscht hier. Dutzende von blinden Sportlern, Betreuern und Freunden quetschen sich durch die engen Gänge, Sporttaschen sind im Fünferpack aufeinandergestapelt. Glimmende Zigaretten gleiten manchen aus den Händen in die Tasche des Nachbarn - ein Betreuer jongliert vier Pappbecher Kaffee zu seiner Mannschaft, die sich die Umkleidekabine und Dusche mit zwei weiteren Teams teilen muß. „Mist, das gibt wieder ein Horn“, stöhnt eine gereizte Stimme nach einer Rempelei inmitten des Gewirrs.

Blinde Sportler sind erschwerte Bedingungen gewohnt. War es noch erklärlich, daß die Deutschen Meisterschaften j.w.d., am südlichsten Stadtrand Berlins stattfinden, empfanden die Meister der 16 Herren- und neun Frauenteams ihre Arena, eine mickrige Mehrzweckhalle, schlicht als eine Zumutung. „Ich komme mir vor wie bei uns im Geräteraum“, kommentiert der Bremer Stefan Kolle das undurchschaubare Durcheinander.

Torball - das heißt, ein Feld etwas kleiner als beim Volleyball; geteilt durch drei Klingelseile, die in 40 Zentimeter Höhe an Kästen gespannt werden und Spielerinnen und Spieler zwingen, den 500 Gramm schweren Ball unten durch zu schleudern. Streift er die Schnur, muß einer der drei raus - für den Gegner ein halber Elfmeter, bei einer Torgröße von sieben mal einsdreißig.

Doch in dieser Halle klingelte es öfter, als den Akteuren recht war. Die improvisierten Seilspanner, ein Barren, ein Kasten, ein Handballtor, wurden für die Blinden zur reinen Stolperfalle. Irritation für die in Abwehrhaltung auf den Knien kauernden Spieler, die die Nasenspitzen fast in den Boden drücken und mit gespitzten Ohren Stimmen aus den hintersten Winkeln wahrnehmen.

Und dann zischt die Kugel heran, die drei kippen nach links, wie Klappmesser sich streckend. Dem ersten springt der Ball von der Fußspitze an den Kopf des zweiten und von dort an die Latte - Torball ist kein Sport für schwache Nerven. Erst recht nicht für schwache Knochen. Die Spieler sind gepolstert wie beim Football und nicht wenige tragen schon natürlichen Schaumstoff am Körper.

Das zweite Attribut ist Kraft. Jens Hellenschmidt von der SSG Blista Marburg könnte, würde er nur sehen, in jeder Handballmannschaft zum Goalgetter werden. Seine Würfe fürchten die Gegner, weil jeder Abwehrversuch Überwindung kostet. Die Marburger haben noch mehr solcher Vollblutsportler und sind jung. Das Team heimste den vierten Titel innerhalb von fünf Jahren ein.

Doch Torball ist ein Aufeinandertreffen von Generationen. Mannschaften wie BSV Berlin oder die BSV Stuttgart setzen sich fast ausschließlich aus Kriegsblinden zusammen. Die Stuttgarter wurden zum „Hit“ des Turniers. Bei einem Durchschnittsalter von 48, doppelt so alt wie die Marburger, kann ihnen nur noch der Körperspeck helfen, dachten alle. Doch die Männer im dritten Frühling überstanden Vor- und Zwischenrunde, hatten am Ende als Drittplazierte 13 Spiele (neun am zweiten Tag) absolviert, obwohl es eine ärztliche Vorschrift gibt, die mehr als sieben Partien verbietet. „Ich habe schon Herzinfarkte auf dem Spielfeld erlebt“, wunderte sich Trainer Lothar Seidel über seine „Jungs“.

Doch die Zukunft liegt sicher bei den Jungen, die als Sportler immer nur so gut sind wie ihre Ausbildung. Und Marburg ist die einzige Stadt in der BRD, wo blinde Jugendliche Abitur und Studium absolvieren können.

Der Rest der Republik ist immer noch blind für die Bedürfnisse Blinder. In den meisten Köpfen existieren Blinde als „Telephonistin oder Bürstenbinder“. Logisch, daß in Marburg, wo die modernsten Möglichkeiten für Sehbehinderte ausgeschöpft werden, auch viel Engagement in den Sport fließt. Die Nationalmannschaft ist bei Frauen und Männern praktisch identisch mit der SSG Blista. Sie reisten 1988 auch zu den Paraolympics nach Seoul, und sie werden eines Tages vielleicht auch vor dem Dilemma stehen, daß nur noch gedopte Sportler ein Wort mitreden können, wie es in Seoul bei behinderten Schwimmern schon gang und gäbe war.

Diskutiert wird auch, ob nicht auch Sehende (mit einer Augenbinde) mitspielen sollten. In der Schweiz ist bereits ein Spieler pro Team zugelassen. Die einen sehen darin Chancen, ihren Freunden mehr Verständnis für ihren Sport zu öffnen, andere wie der Bremer Trainer Thomas Lehrmann sind skeptisch: „Man kann sich sehend erst mal Würfe antrainieren; da würden die Blinden aus ihrem Sport herausgedrängt.“

Doch als mir die fieberhafte Atmosphäre der Endspiele mit Verlängerung und Penaltyschießen selbst Schweiß auf die Stirn treibt, spüre ich: Jucken würd's mich schon.