Nicht überall wird „ordnungsgemäß“ saniert

■ Selbst Bausenator Nagel gesteht Besetzern im Einzelfall „moralischen Anspruch“ zu

Eine Vokabel war gestern angesichts der Besetzungen in aller Munde: „Wohnungsklau“. Nicht nur im Stab des neuen Bausenators wurde dieser Vorwurf gegen die BesetzerInnen erhoben; auch AL-Politiker wie der Bauexperte Volker Härtig und der Kreuzberger Baustadtrat Orlowsky gebrauchten das Wort. Ihr Argument: Die Hausbesetzungen Anfang der 80er Jahre richteten sich gegen spekulativen, „perspektivlosen Leerstand“. Bei den gestern besetzten Häusern stünden Wohnungen dagegen lediglich für die Dauer der Sanierung leer; die öffentlich geförderte Instandsetzung oder Modernisierung (ModInst) geschehe abgestimmt mit den Mietern, die in ihre Wohnungen zurückkehren wollten - ein Verfahren der „behutsamen Stadterneuerung“, das die alte Besetzerbewegung mit erkämpft hatte. Deshalb will SPD -Bausenator Nagel „nicht hinnehmen“, daß BesetzerInnen sich „an der Berechtigtenschlange vorbei Wohnraum selbst besorgen“.

Während allerdings Nagels Referent Fuderholz gestern den Vorwurf des „Wohnungsklaus“ in allen Fällen erhob, machen der Kreuzberger Baustadtrat Orlowsky und die örtlichen Mieterberater Einschränkungen. In der Köpenickerstraße 195a etwa stehen einige Wohnungen nicht wegen Umsetzungen leer, sondern wegen des schlechten Hauszustandes. Die Bauaufsicht hat hier wegen Leerständen und des Unbewohnbarmachens von Wohnungen bereits hohe Zwangsgelder gegen den Eigentümer verhängt. Auch für die Cuvrystraße 35 gelten nicht die von Nagel genannten Voraussetzungen.

Das Haus ist in keinem Modernisierungsprogramm, sondern ein reines Spekulationsobjekt. Seit drei Jahren steht das Haus zu großen Teilen leer, zuletzt war nur noch eine Wohnung vermietet. Nach häufigen Eigentümerwechseln gehöre das Gebäude jetzt einem Strohmann der berüchtigten Firma Data -Domizil, heißt es in der Kreuzberger Baubehörde. Die Zustände hier könnten insofern eine Besetzung sogar eher als in der Nostitzstraße rechtfertigen, in der die Sanierung wegen eines Eigentümerwechsels ins Stocken gekommen war. Dieses schon vor zwei Wochen teilbesetzte Haus wollte Nagel wegen solcher „Fehlentwicklungen“ bewußt nicht räumen lassen. Die BesetzerInnen hätten hier „einen gewissen moralischen Anspruch“, meinte Nagel auch gestern - für die Cuvrystraße wollte er das trotz ähnlicher Voraussetzungen nicht gelten lassen. Schludrige Sanierungsvorbereitung und ein Eigentümerwechsel sind auch der Grund, weshalb in der Reichenberger Straße 133 einige Wohnungen seit Monaten leer stehen. Von einer „ordnungsgemäßen Sanierung“ konnte hier zumindest in der Vergangenheit nicht die Rede sein.

Für die drei Häuser der städtischen Gesellschaft BeWoGe dagegen sprechen sowohl die Mieterberater als auch Orlowsky von einem normalen Verlauf der ModInst-Maßnahmen. In den Häusern Adalbertstraße 74 und Sorauer Straße 23 wolle die BeWoGe in ein bis zwei Monaten mit bauvorbereitenden Arbeiten beginnen, erklärte Prokurist Joachim Zwingelberg gestern. Im Fall der Lübbener Straße 27 könne es noch vier bis fünf Monate dauern. Alle drei Häuser sind bislang nur etwa zur Hälfte „entmietet“.

Härtig wollte den BesetzerInnen gestern nachmittag das Recht auf Irrtum zugestehen: Wenn man vor leerstehenden Häuser stehe, sehe man ihnen nicht an, was mit ihnen geplant sei. Härtig: „Dort, wo andere Mittel nicht greifen, begrüßen wir Besetzungen.“ Doch Senator Nagel setzt nicht auf Besetzungen, sondern auf „andere Mittel“. Gegenüber Orlowsky versprach er am Montag, in Problemfällen künftig „Treuhänder“ einzusetzen, um eine stockende Sanierung zu beschleunigen.

Ein Sonderfall unter den gestern besetzten und geräumten Häusern ist die Leberstraße 39 in Schöneberg. Ein einziger Mann „besetzte“ das dreistöckige Wohngebäude. Diesen alten Plan verwirklichte er, nachdem er im Frühstücksfernsehen von den Kreuzberger Aktionen gehört hatte. „Total verständlich“ fand gestern auch SPD-Baustadtrat Saager die Ein-Mann -Aktion. Das Haus stehe in Teilen schon seit mindestens fünf Jahren leer, erläuterte ein Schöneberger Mietervertreter. Mittlerweile konnte der Besitzer jedoch eine Genehmigung für Abriß und Neubau erlangen. Morgen will er die Birne schwingen.

hmt