Shakespeare im Delirium

■ Andrea Breth inszeniert „Was ihr wollt“ in Bochum

Das Saallicht verlischt. Im Halbdunkel bahnt sich ein Mann den Weg zwischen erster Parkettreihe und Bühnenrampe und murmelt: „Snow again. The newspapers were right. All parts of snow lay thickly drifted.“ Wo sind wir? Im falschen Stück? Am falschen Ort? In der falschen Zeit? Wo steht das bei Shakespeare?

Andrea Breths Inszenierung der Standard-Komödie macht vom ersten Moment an klar, daß sie alle Konventionen der Aufführungstradition mißachtet. Wenn der Vorhang sich öffnet, sehen wir zwar wie erwartet Herzog Orsino liebeskrank nach Gräfin Olivia schmachten. Aber was sich hinter ihm auftut, ist absonderlich. Laszive Gestalten räkeln sich zu wortlosem Sirenengesang auf einer Landschaft von umgestürzten Ledersesseln, eine Frau mit Schmetterlingsflügeln schiebt sich langsam auf die Bühne: erotische Traumphantasien. „So voll von Phantasien ist die Liebe“, ist Orsinos Kommentar. Kaum hat man sich auf diese düster-schwüle Stimmung eingestellt, wartet die Inszenierung mit einem unschuldig naiven Bühnenspaß auf: Plötzlich schwappt das Meer vor der Küste Illyriens bis zur Bühnendecke hoch, Pappwellen schwanken an Seilen hin und her, und munter springt ein Delphin am Zeigestock hindurch. Nun wird die schiffbrüchige Viola vom treuen Kapitän gerettet.

Nach Rätselraten, Traumspiel und Kindertheater kommt dann die Boulevardgroteske: Marie, die Kammerzofe Olivias, Sir Toby und Sir Andrew Bleichenwang - das Komikerteam - tapern auf die Bühne und vollführen einige obszöne Slapsticks, verzweifelt und komisch, brutal und virtuos.

Was ihr wollt ist eines der haltbarsten Stücke Shakespeares. Auch Hunderte von Routineinszenierungen konnten ihm nichts anhaben. Wie schlecht da auch gebrüllt und chargiert wird, das Publikum lacht immer. Charlies Tante von Shakespeare, so sieht man das Stück zumindest auf deutschen Bühnen häufig. Andrea Breth ist zwar nicht die erste, die dagegen den negativen, desillusionierenden Charakter des Stückes hervorhebt. (Trevor Nunn, der Leiter der Londoner Royal Shakespeare Company, hat es schon vor Jahren ein „Winter-Stück“ von emotionaler Kälte genannt, und erst kürzlich zeigte B.K. Tragelehn in Düsseldorf eine unterkühlte, unkomische Version.) Aber eine Inszenierung des Stückes, die solch intensiven Pessimismus mit solch lebendigem Einfallsreichtum kombiniert, dürfte es wohl noch nicht gegeben haben.

Gespielt wird eine Übersetzung des Dramaturgen Reinhard Palm, die häufige Anleihen bei der guten alten Schlegel -Übersetzung mit einem Schuß Willkür verbindet, der Regiekonzeption aber gute Dienste leistet. Wenn der Narr eigentlich sagt: „Es gibt keine andere Dunkelheit als Unwissenheit“, so sagt er in Bochum: „Es gibt keine andere Hölle als die Einbildung.“ Die Bochumer Inszenierung nutzt die Möglichkeit, ihre Interpretation auch im Sprachduktus der Übersetzung zu verankern. „Höllen der Einbildung“ hat auch der Bühnenbildner Gisbert Jäkel geschaffen: eine steile Treppe im Halbdunkel, eine verdorrte Steppe, ein verschlissener Kinosaal.

In dieser Inszenierung ist wirklich „alles falsch, stimmt nichts - und ist doch ganz richtig nach eigenem Gesetz“. Ebenso wie Ludwig Wittgenstein, der im Programmheft zitiert wird, Shakespeares Stücke charakterisiert. Malvolio, der gefoppte Haushofmeister, heult bittere Tränen im Moment seines größten Triumphes, wenn er glaubt, sich der Liebe Olivias sicher sein zu können. Diese komischste Szene der Theaterliteratur verschafft einem in Bochum einen Kloß in die Kehle. Das Komikertrio ist oft leise, dezent und tragisch, Orsino und Olivia oft laut, exaltiert und komisch. Seltsame Traumvisionen verwirren immer wieder die Zusammenhänge: eine Nonnenprozession raunt Gebete, Zeitungsleser murmeln: „Das Badezimmer ist nicht das Badezimmer“.

Diese Inszenierung ist ein Traum, ein böser Traum, ein Fiebertraum, vielleicht der Traum derjenigen Figur, die während der ganzen Vorstellung oben am Rand der kreisrunden Öffnung zur Bühnendecke hängt: ein Toter? Ein abgestürzter Träumer?

Ein Happy-End hat diese neckische Verwechslungsgeschichte ja eigentlich wirklich nicht. Viola, verkleidet als Knabe Cesario, verliebt sich in ihren Herrn Orsino, der schickt sie als Liebesbotin zu seiner angebeteten Olivia, diese verliebt sich in den falschen Knaben Cesario. Und dann taucht Violas Zwillingsbruder Sebastian auf, Cesario wird wieder eine Frau, und alle Beteiligten müssen ihre libidinösen Besetzungen naturgemäß verschieben: Olivia muß Sebastian lieben und Orsino Viola. Nicht nur, daß diese Fabel mit der Liebe zum gleichen Geschlecht Schabernack treibt, sondern sie verwirrt Beziehungen zwischen Menschen ganz elementar. Liebten Orsino und Olivia überhaupt jemanden? Oder gefielen sie sich nicht nur in Leidenschaftsposen? Wie kommt es eigentlich, daß unsere frei vagabundierende Libido sich auf bestimmt Personen niederläßt?

Viola behauptet am Ende des Stückes: „Doch die Natur fand trotzdem ihren Weg.“ Angesichts dieser Fabel ist das der pure Hohn. Die Natur hat zusammengezwungen, was nicht zusammen wollte. Olivias Einsicht, „wir sind uns selber nicht zu Willen“, ist da schon passender.

Nach vier Stunden, in denen nach der Pause die Spannung doch deutlich nachließ, am Ende, stehen die Paare, die sich zur Doppelhochzeit ordnen sollten, wirr verschoben am Bühnenrand, Sebastian und Olivia voneinander abgewandt auf Distanz, Viola hat ihren Kopf in die Hand Orsinos gelegt wie auf einen Richterblock. „In Illyrien ist die Liebe wirklich physisch, roh und ungestüm, sie läßt sich weder voll befriedigen noch voll erwidern“, schrieb Jan Kott in seinem berühmten Shakespeare-Buch.

Andrea Breth hat sich selbst einmal in einem Interview einen „Negativbolzen“ genannt. Das Schöne daran ist, daß sie ihre Negativität mit liebevoller Aufmerksamkeit für die Schauspieler und in sinnlicher Bildfülle auf die Bühne stellt, so daß Aufführungen entstehen, die verstören, amüsieren und beglücken. Nach Julien Greens Süden, Alan Ayckbourns Schöne Bescherungen ist dies ihr und ihrer Bochumer Schauspielertruppe mit Was ihr wollt ein weiteres Mal gelungen. Ihre destruktive Energie und produktive Phantasie brechen mühelos mit allen Bühnenkonventionen und setzen einen Shakespeare von heute frei. Oder, wenn es noch erlaubt ist, Adorno zu zitieren: „Die spekulative Kraft, das Unauflösliche aufzusprengen, ist aber die Negation.“

Gerhard Preußer

Weitere Vorstellungen am 25. und 26.3.