Mit bangem Blick auf die Waage...

■ Ausschließlich Frauen leiden unter Freß- und Kotzsucht (Bulimie) / Probleme macht nicht nur das Dickwerden, sondern auch die Finanzierung des „Stoffs“ / Nur geringe Heilungserfolge / Bericht einer Betroffenen

Den Tag mit bangem Blick auf die Waage beginnen“ - „Die Kalorienzahlen fast aller Lebensmittel auswendig wissen“ „Abends im Bett Diätpläne für den nächsten Tag schmieden...“

Auf wen dies zutrifft, die ist nach Ansicht der Berliner Beratungsstelle „Dick und Dünn“ in ihrem Eßverhalten gestört. Nach Schätzungen der AOK gilt das für jede dritte Frau in der Bundesrepublik. 500.000 bis 600.000 dieser Frauen, so schätzt die Krankenkasse weiter, sind freß- und kotzsüchtig, medizinisch ausgedrückt leiden sie unter „Bulimia Nervosa“, frei übersetzt „Stierhunger“. Die Betroffenen sind ausschließlich Frauen, ihr Durchschnittsalter liegt laut 'Brigitte'-Umfrage von 1984 bei 25 Jahren. Anders ausgedrückt: In einem durchschnittlich überfüllten Uni-Seminar sitzen zwei bis drei freß- und kotzsüchtige Frauen, 30 bis 50 legen ein gestörtes Eßverhalten an den Tag. Faßt man die Definition der Berliner Beratungsstelle noch weiter und sagt: „Jede Frau, für die Essen ein Thema außerhalb ihrer körperlichen Bedürfnisse ist, ist in ihrem Eßverhalten gestört“, dann steigen die ohnehin erschreckenden Zahlen ins Unüberschaubare - Essen aus Hunger und Aufhören bei Sättigung - wer kann das überhaupt noch?

Während Magersucht ein Begriff ist, unter dem die meisten sich noch etwas vorstellen können, versagt die Allgemeinbildung beim Thema Bulimie völlig. Zum Teil liegt dies sicherlich an ihren unerfreulichen Auswirkungen: Während Magersucht „wenigstens noch dünn“ macht, sich also auf das Schlankheitsideal zubewegt, werden Frauen, die fressen und kotzen, in der Regel dicker. So dauerte es denn auch bis zum Jahre 1980, ehe die Bulimie medizinisch überhaupt anerkannt wurde. Obwohl seitdem als eigenständige Krankheit definiert, haben die meisten MitbürgerInnen völlig falsche Vorstellungen davon: „Aus Kummer fressen tun doch viele“, sagen die einen. „Die sollen sich halt ein bißchen zusammennehmen“, tönen die anderen. Dabei unterscheidet sich der „Alltag Bulimie“ nicht von dem anderer Süchte, wie zum Beispiel der Sucht nach Alkohol. Bulimie - das heißt, sich den ganzen Tag wechselweise mit zwei Gedanken zu beschäftigen: Wo kann ich möglichst schnell „Stoff“ herbekommen, unbemerkt in mich hineinstopfen, und wo kann ich heimlich alles wieder auskotzen?

Fast jede bessere Illustrierte und alle sogenannten Frauenzeitschriften haben sich in den letzten Jahren pflichtbewußt des Themas Bulimie angenommen. Pflichtbewußt eben, mit ein bißchen Gesellschaftskritik - besonders spaßig, wenn ausgerechnet 'Brigitte‘ den „grausamen Diätenterror“ für diese Krankheit verantwortlich macht. Betroffene Frauen kommen dagegen auffällig selten zu Wort.

Stoff beschaffen

Ich will deshalb versuchen, beides zu verknüpfen: Meine Erfahrungen als ehemalige (?) Bulimie-Kranke sowie mein theoretisches Wissen über diese Krankheit. Stoff beschaffen, fressen, auskotzen - in meinem Fall war das der Teil der Sucht, der völlig unkontrollierbar war. Ich ging so weit, den Unterricht mitten in der Stunde zu verlassen, um zu essen. Mit „gläsernem Blick“ schlich ich durch die Straßen, bis ich Droge und einen ungestörten Platz aufgetrieben hatte. Ruhig war ich erst, nachdem ich mich des Mageninhalts wieder entledigt hatte. Das Kotzen ist, obwohl eigentlich Nachfolgeerscheinung des Fressens, nicht weniger zwanghaft. Nach einem Freßanfall plagt die Süchtigen das schlechte Gewissen. Erst wenn der Vorgang „Kotzen“ zur Zufriedenheit gelungen ist, d.h. möglichst schnell, bevor der Körper beginnt, die Nahrung zu verarbeiten, alles wieder herausgewürgt werden konnte, folgt Erschöpfung und Ruhe. Später stellen sich erneut Gewissensbisse und Selbstekel ein, die meist mit dem Schwur enden, „ab morgen wieder ganz normal“ zu sein. Die Anzahl dieser Freßanfälle variiert - 63 Prozent der betroffenen Frauen haben laut 'Brigitte‘ zum Teil mehrmals täglich solche Heißhungerattacken.

Auf jeden Fall aber steigt sowohl die Zahl der Anfälle als auch die Menge der konsumierten Lebensmittel mit zunehmender Dauer der Sucht: Ein ganzes belegtes Fladenbrot, zwei Tafeln Schokolade, ein Glas Leberwurst, eine ganze Sahnetorte - das waren übliche Mengen bei meinen Freßanfällen. Betroffene Freundinnen schildern Ähnliches: Bis zu 10.000 Kalorien konsumieren manche der Kranken bei einer solchen Freßattacke, das ist das Fünffache des durchschnittlichen Tagesbedarfs. Auffällig ist auch, daß die Mehrzahl der Kranken angibt, bei ihren Freßanfällen Süßigkeiten vorzuziehen. Auch das Erbrechen wird ein zunehmend schwieriger Vorgang: Speiseröhre und Magen stumpfen ab, als Manipulationsmöglichkeiten bleiben die Anzahl der in den Hals gesteckten Finger und die Zusammensetzung der Nahrung. Ich entwickelte ein sicheres Gefühl dafür, welche Mischungen auskotzbar waren und welche nicht. Irgendwann aber versagen auch diese Techniken, der Magen weigert sich, seinen Inhalt zurückzugeben. Die Süchtige wird dicker.

Der Druck von außen, die Blicke, die frau auf ihrem dicker werdenden Körper spürt, kommen hinzu: War die Kranke vorher schon isoliert, um „jederzeit bereit“ für eine Freßattacke zu sein, so kapselt sie sich spätestens jetzt von ihrer Umgebung ab. Einsamkeit kommt hinzu, die Depressionen werden stärker, nicht wenige Frauen denken in diesem Stadium der Krankheit an Selbstmord als einzigen Ausweg aus dem Leiden.

Nahrungsmittel stehlen

Zum Problem wird auch die Finanzierung dieses ungeheuren Lebensmittelkonsums: Sechsmal pro Tag und häufiger kotzen manche der Betroffenen, siebzig Mark kostet ein durchschnittlicher Freßanfall. Mangelt es am nötigen Kleingeld, bleibt häufig kein anderer Weg, als Nahrungsmittel oder Geld zu stehlen. Meist nur im kleinen Rahmen der Familie oder der Wohnung, aber genug, um das ohnehin stark strapazierte Gewissen zusätzlich zu belasten. Kaum eine der mir bekannten Frauen hat es geschafft, den nötigen Gang zur Therapie aus eigener Kraft zu tun: Denn eine Therapie zu wollen, das heißt sich einzugestehen, daß frau ohne fremde Hilfe nicht mehr weiterkommt. Meist reicht eine Gesprächstherapie, in der die Alltagsprobleme zu bewältigen gelernt werden, um die Freßanfälle auf „eher selten“ zu reduzieren.

Nicht das Fressen muß frau sein lassen, sondern das Erbrechen. Trotzdem ist die Zahl der völlig Geheilten bei solchen Therapien relativ klein: Nur ein Drittel der Kranken kann, so berichtete das ZDF in seiner „Suchtwoche“, danach als geheilt betrachtet werden. Der Grund für diese geringen Heilungsaussichten liegt sicher im Gegensatz zu den anderen Drogen: „Essen“ kann frau nicht, wie etwa den Alkohol, radikal für immer absetzen, denn Essen ist eben auch lebensnotwendig. Der Grund, weswegen eine Frau süchtig wird, liegt natürlich immer in ihrer eigenen Geschichte. Daß es aber die „Droge Essen“ ist, die zunehmend an Bedeutung gewinnt, ist eindeutig Ausdruck unserer Gesellschaft mit ihrem Schlankheitsdiktat: 77 Prozent der Frauen gaben bei der 'Brigitte'-Umfrage die „Angst vor dem Dickwerden“ als Einstiegsgrund an. So war es denn ausgerechnet ein Artikel in eben dieser Zeitschrift, der mich auf den Gedanken brachte, den Finger in den Hals zu stecken, um dem Diätenstreß ein Ende zu setzen.

Anna Garbe

Adressen: Dick & Dünn, Beratung bei Eßstörungen e.V., Innsbrucker Straße 42, 1 Berlin 62, 030 / 782 25 77

NAKOS, Nationale Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen, Albrecht-Achilles-Str. 65, 1 Berlin 31, 030 / 891 40 19 (gibt Auskunft über die Adressen aller bundesdeutschen Selbsthilfegruppen und Beratungsadressen)