Chinas neuer Wirtschaftskurs im Wechselfieber

Auf dem Nationalen Volkskongreß bleibt der Stuhl des Reformers Teng leer / Die anhaltenden Schwierigkeiten in der chinesischen Wirtschaft bringen die reformwilligen Kräfte in der Parteiführung zunehmend in Schwierigkeiten / Zentralisten in der Kommunistischen Partei wieder auf dem Vormarsch?  ■  Von Larry Jagan

Berlin (taz) - Teng Hsiao-ping ist zur Eröffnung des Nationalen Volkskongresses in Peking nicht erschienen. Im letzter Minute vor der Direktübertragung im chinesischen Staatsfernsehen mußte sein Stuhl in der großen Halle des Volkes noch beiseite geräumt werden.

Der 84jährige Deng befindet sich nach Auskunft seines Sohnes bei bester Gesundheit. Es geht vielmehr das Gerücht um, sein Fernbleiben sei politisch motiviert. Schonungslos kritisierte Ministerpräsident Li Peng in seinem Rechenschaftsbericht frühere Fehler einer übereilten Reformpolitik, die zum jetzigen Wirtschaftschaos und der hohen Inflation geführt hätten. Schuld daran sei auch das Festhalten an der Preisreform gewesen. Gerade Teng Hsiao -ping hatte sich noch im Vorjahr für die weitere Freigabe der Preise stark gemacht. Mit keinem Wort würdigte Li Peng die Leistungen Dengs als Architekt der zehnjährigen Reformen.

Dafür wurden am Dienstag Einzelheiten der neuen Sparpolitik bekanntgegeben. Li Pengs Stellvertreter Yao Yilin sowie Finanzminister Wang Binggian erklärten den rund 2.800 Delegierten, China brauche mehr Kontrolle, nicht mehr Freiheit. Vorgesehen sind eine Steuerreform, die Streichung von Krediten, die Einstellung von „nicht unbedingt erforderlichen Projekten“ bis Mitte Juli, die Drosselung der privaten Nachfrage und die Einführung einer obligatorischen Einkommenssteuererklärung. Nach Wangs Worten sollen künftig alle Einwohner verpflichtet sein, den Behörden ihre Einkünfte offenzulegen.

Volkssport Steuerhinterziehung

Steuerhinterziehung gilt in der Volksrepublik als Volkssport. An die Verordnung von 1987, wonach zur Einkommenssteuer veranlagt wird, wer ein Monatseinkommen von mehr als 400 Yuan (nach offiziellem Kurs 150 Mark) erzielt, halten sich die wenigsten. Hyperinflation, Arbeitslosigkeit, ein panischer Einkaufsboom und soziale Unruhen haben in den letzten Monaten immense Ausmaße angenommen. Nach Einschätzung westlicher Korrespondenten sieht sich China derzeit mit der drastischsten Wirtschaftskrise seit 1949 konfrontiert, als die kommunistische Partei an die Macht kam.

KP-Chef Zhao Ziyang ist in diesem Zusammenhang in die Schußlinie geraten. Bei einem Jahrestreffen der KP-Führung in der Kaderresidenz Beidaihe im vergangenen Herbst ist es ihm nicht gelungen, seinen Kollegen plausibel zu machen, warum es notwendig wäre, die chinesische Währung, den Renminbi, um 30 Prozent abzuwerten. Die Parteiführung hat sich darüber in zwei Lager gespalten. Zhao und seine Anhänger treten für eine Steigerung des Überseehandels und eine Abwertung ein, die die chinesischen Produkte für die internationalen Käufer noch attraktiver machen soll.

Die Vertreter der Zentralplanung argumentieren dagegen, eine Abwertung würde die Importe verteuern und die Inflation noch verschlimmern. Überdies würde Chinas alarmierendes Handelsdefizit in die Höhe schnellen. Welche Währungspolitik die Regierung auch einschlägt, dem blühenden Schwarzmarkt ist damit nicht beizukommen.

Der Handel mit ausländischen Wechselzertifikaten, die eine Wechselrate von nicht weniger als 1:6 einbringen, gedeiht prächtig.

Offiziell wird die Inflationsrate auf 21 Prozent beziffert. Den verschärften Preiskontrollen, mit denen die hektische Kaufwut gebremst werden sollte, folgten noch größere Preiserhöhungen. Grundnahrungsmittel, Puder und Seife werden gehortet. Der neue Kurs sieht eine Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion vor.

Der stellvertretende Ministerpräsident Yao bedauerte vor dem Parlament das zu rasche Wachstum der Industrieproduktion um 17,7 Prozent im vergangenen Jahr, während die landwirtschaftliche Produktion nur um 3,12 Prozent gesteigert werden konnte. Die Getreideernte stagniert in China seit Jahren, während die Bevölkerung trotz der Ein -Kind-Politik unaufhaltsam wächst. Westliche Beobachter schätzen, daß rund 40 Millionen Chinesen zu wenig zu essen haben.

Das Gerücht, man könne in der südchinesischen Provinz Guandang schnell viel Geld verdienen, veranlaßte allein im Februar 2,5 Millionen Menschen, die Region auf der Suche nach Arbeit zu stürmen. Der Zustrom auf die Provinzen Guandon, die Wirtschaftszone Schenzhen und die Hafenstadt Schanghai, wo die Ansiedlung arbeitsintensiver, exportorientierter Industrien ermutigt wurde, schafft zusätzlich unkontrollierbare soziale Probleme. Zwar floriert die Wirtschaft in der Küstenregion, doch die jüngst von der Zentralregierung georderte Einstellung von Bauprojekten zur Eindämmung der überhitzten Wirtschaftsentwicklung führten zur Entlassung von ungefähr fünf Millionen Arbeitern.

Jobsuche von Stadt zu Stadt

Andererseits brachte die verstärkte Autonomie der Unternehmensführung mit dem neuen Recht, zu heuern und zu feuern, Entlassungen und Migrationsbewegungen mit sich. Zudem können jetzt Schulabgänger, die früher ihre Arbeitplätze zugewiesen bekamen, ihre Jobs frei suchen, und viele ziehen auf der Suche nach der besten Möglichkeit von Stadt zu Stadt.

Im Zuge der neuen Rationalisierungspolitik setzte man allein in Schenyang rund 40.000 Arbeiter aus 700 Fabriken auf die Straße. Fachleute schätzen die Zahl der unterbeschäftigten Arbeiter in der chinesischen Industrie auf mindestens 20 bis 30 Millionen. Leidtragende des Trends zu mehr Profitabilität sind insbesondere die Frauen. Wie aus jüngsten Berichten hervorgeht, tendieren die Unternehmensbosse im allgemeinen dazu, weibliche Arbeitskräfte einzusparen. Einer Erhebung der Gewerkschften zufolge sind nur fünf Prozent aller Unternehmer bereit, Frauen einzustellen.

In den führenden Wirtschaftszonen der Volksrepublik wächst derweil die Besorgnis über die steigende Zahl von Massagesalons, die von immer mehr Frauen als profitablere Erwerbsquelle entdeckt werden. Der Sicherheitsminister Wang Fang berichtete dazu von einem „alarmierenden Anstieg“ der Kriminalitätsrate. Wie er dem zuständigen Kommitee des Nationalen Volkskongresses mitteilte, stieg die Quote bereits im Jahr 1987 um 35 Prozent an. Unter den angeführten Verbrechen wurden Prostitution, unerlaubtes Glücksspiel, pornographische Veröffentlichungen und Drogenmißbrauch aufgezählt.

„Gegenwärtige Unrast“

Ministerpräsident Li Peng räumte auf einem Treffen des Nationalen Sicherheitsrates ein, daß Chinas „gegenwärtige Unrast“ ein unvermeidbares Produkt des wirtschaftlichen und politischen Wandels sei. Die Probleme seien auch ein Resultat, so Li Peng, des sozialen Aufstiegs und der dadurch verschärften Widersprüche in der chinesischen Gesellschaft. Die Sicherheitsorgane müßten sich auf „ernsthafte soziale Konflikte“ vorbereiten, zu denen er Arbeitsunruhen, Sabotage und schwere Verbrechen zählte.

In der chinesischen Führung betrachtet man die Inflation, die Arbeitslosigkeit, die Nahrungsmittelknappheit als zeitlich begrenzte Übel. Als einzigen Weg aus dem aktuellen Dillema wird von vielen aus der Partei- und Wirtschaftsführung die Beschleunigung des „Verjüngungsprozesses“ der chinesischen Industrie angesehen. Beim derzeit laufenden Volkskongreß scheinen die Symptome diesmal jedoch wieder den zentralistisch orientierten Reformgegnern Auftrieb zu geben.