Um Arbeitslosenhilfe geprellt

Sozialgericht Hannover verurteilt Praktiken der Bundesanstalt für Arbeit / Höchstrichterliche Rechtsprechung vorsätzlich mißachtet / Fiktiver Unterhalt durfte bei Arbeitslosenhilfe nicht angerechnet werden / Bundesanstalt hat mutwillig Prozeßflut heraufbeschworen  ■  Von Vera Gaserow

Berlin (taz/dpa) - Die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg hat vorsätzlich eine Entscheidung des Bundessozialgerichts ignoriert und Empfänger von Arbeitslosenhilfe zu Unrecht die Gelder gekürzt. Zu dieser ungewöhnlich barschen Rüge kommt jetzt das Sozialgericht Hannover in einem ersten Musterverfahren, das eine ganze Prozeßlawine in Richtung Nürnberg lostreten könnte. Allein in Hannover sind rund 60 gleichgelagerte Klagen anhängig. Obwohl es das Bundessozialgericht im September 88 für unzulässig erklärt hatte, unterhaltspflichtige Verwandte bei der Arbeitslosenhilfe heranzuziehen, habe die Bundesanstalt ihre Arbeitsämter angewiesen, die Arbeitslosenhilfe weiterhin um einen fiktiven Unterhaltsbetrag zu kürzen, rügen jetzt die Hannoveraner Sozialrichter. Wegen „Nichtbeachtung der Rechtsprechung“ und „mutwilliger Rechtsverfolgung“ verurteilten sie die Bundesanstalt zur Übernahme der Prozeßkosten in Höhe von 900 Mark. Außerdem muß das Arbeitsamt der Klägerin die volle Arbeits losenhilfe zahlen, ohne den fiktiven Unterhalt der Mutter der Arbeitslosen anzurechnen. (AZ: S 3 Ar 194/88)

Hintergrund dieses Rechtsstreits ist ein Urteil des Bundessozialgerichts, das unter Arbeitslosen Jubel hervorgerufen hatte. Entgegen der jahrelangen Praxis, so hatten die höchsten Sozialrichter entschieden, dürfte bei der Arbeitslosenhilfe künftig nicht mehr das Einkommen von Eltern, Kindern oder früheren Ehegatten einberechnet werden. Die Arbeitslosenhilfe dürfe auch nicht einfach um einen fiktiven Unterhaltsbetrag gekürzt werden, den die meisten Arbeitslosen gar nicht tatsächlich erhalten - sei es, weil sie ihn von ihren Familien nicht einklagen wollen oder aus zivilrechtlichen Gründen gar nicht einklagen können.

In Absprache mit dem Bonner Arbeitsministerium hatte die Bundesanstalt für Arbeit jedoch dieses Grundsatzurteil einfach ignoriert. Zwei Monate dauerte es, bis sie ihre Arbeitsämter vor Ort von dem Urteil in Kenntnis setzte. Alle Ansprüche vorerst abwimmeln und weiterhin die Arbeitslosenhilfe kürzen, so hieß die Devise, die die Bundesanstalt Ende November an die Arbeitsämter weitergab. Allein weil sie erhebliche Kosten fürchtete, habe die Bundesanstalt in Absprache mit dem Bonner Ministerium auf der illegalen Verwaltungspraxis bestanden, befanden jetzt die Hannoveraner Richter. Damit habe die Behörde nicht nur die betroffenen Leistungsempfänger um ihre Ansprüche geprellt, sondern mutwillig auch eine Prozeßflut zu Lasten des Steuerzahlers heraufbeschworen. Denn es sei offensichtlich gewesen, daß die Bundesanstalt bei möglichen Klagen juristisch keine Chance gehabt hätte.

Empfänger von Arbeitslosenhilfe, die sich bisher nur über diese Fortsetzung Seite 2

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Praktiken der Arbeitsämter geärgert haben, bietet diese erste Grundsatzentscheidung Rückenwind bei eigenen Klagen. Allerdings sollten sie sich dabei flugs beeilen. Denn nachdem das Bundesarbeitsministerium sich schon Ende des Jahres mit einer Rechtsverordnung um das Urteil der Bundessozialrichter herumzudrücken versuchte, liegt nun ein Gesetzentwurf im Bundesrat. Versteckt im Gesetz über Kriegsopferversorgung, soll der Entwurf den alten, für Unrecht befundenen Zustand für Recht erklären. Danach soll all denen die Arbeitslosenhilfe um einen fiktiven Unterhaltsbetrag gekürzt werden, die freiwillig auf Geld von ihren Verwandten verzichten. Einbußen sollen auch diejeni

gen hinnehmen, die einen Unterhaltsanspruch dadurch verspielen, weil sie eine Arbeit unterhalb ihrer Qualifikation ablehnen. „Diese Regelung führt dazu, daß innerhalb der Gruppe der Arbeitslosenhilfeempfänger willkürlich differenziert wird“, kritisierten die Bundesländer Bremen und Schleswig-Holstein jetzt den Gesetzentwurf, gegen den sie „erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich des Gleichheitsgrundsatzes des Grundgesetzes“ geltend machen.