Dreizehn Kategorien

■ Nächste Woche werden die Oscars vergeben. Im Gespräch Fay Kanin, bis zum letzten Jahr Präsidentin der Akademie, die die Preise verteilt. Kanin ist außerdem Vorsitzende der Drehbuchautorengilde in den USA, ihre Bühnenadaption von „Rashomon“ wurde mehrfach ausgezeichnet

Gerhard Midding: Alljährlich vergibt die „Academy of Motion Pictures and Sciences“ die Oscars. Haben sich die Regeln für die Vergabe in den 60 Jahren des Bestehens oft verändert?

Fay Kanin: Diese Regeln werden in jedem Jahr in unserem Vorstand neu überdacht: Wir diskutieren darüber, ob man gewisse Preise nicht mehr vergeben sollte oder sie anders benennen sollte. Die komplizierteste Kategorie ist dabei traditionell die der Musilk. Die Filmmusik hat sich in den letzten Jahren so sehr verändert, daß wir unsere Regeln fast jedes Jahr neu bestimmen müssen. Es gibt die Originalmusiken, die adaptierten Filmmusiken, die Songs, all das hat sich gerade durch den Einfluß der Popmusik sehr gewandelt.

In wievielen Sparten oder Kategorien werden Preise vergeben?

Zur Zeit sind es dreizehn Kategorien, seit Beginn meiner Amtszeit (Kanin war neun Jahre lang Präsidentin, d.Red.) sind einige hinzugekommen, aber wir bemühen uns, es nicht zuviele werden zu lassen. Die Verleihung der „Emmys“ ist für uns immer ein abschreckendes Beispiel gewesen: Da gibt es inzwischen so viel Kategorien, daß sie nicht nur die Fernsehübertragung der Preisverleihung förmlich überschwemmen und in die Länge ziehen. Nein, eine solche Vielzahl von Preisen schwächt die Bedeutung jedes einzelnen Preises doch erheblich ab. Ich will nicht sagen, daß der „beste Ohrring“ oder die „besten Augenwimpern“ nicht beachtenswerte Leistungen darstellen, aber wenn man auch noch für sie Preise vergeben sollte, dann ist es doch nicht mehr etwas so Besonderes, ausgezeichnet zu werden.

Wie groß schätzen Sie den Einfluß ein, den die Werbekampagnen der Studios zur Zeit der Nominierungen auf die Wahl, die die Mitglieder der academy treffen, haben?

Die Werbung beeinflußt die Mitglieder bei ihrer Wahl nach meiner Ansicht überhaupt nicht, die ignoriert man einfach. Zuviel Werbung schadet auch nur. Jedes Mitglied wählt individuell, bei sich zu Haus, da kann keine Lobby oder ähnliches Einfluß nehmen. Wenn die Zeit der Nominierungen kommt, gibt es in den Fachzeitschriften ein richtiges Sperrfeuer von Anzeigen. Das stelle ich regelmäßig fest, wenn ich 'Variety‘ oder den 'Hollywood Reporter‘ aufschlage. Ich lese die Anzeigen gar nicht, da steht ja ohnehin nur Positives über die Filme. Aber die Anzeigen erinnern mich daran, daß gewisse Filme im letzten Jahr gelaufen sind. Ich würde sagen, in dieser Hinsicht bin ich sehr typisch.

Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben für die geringe Bedeutung, die die Werbung hat. Vor einigen Jahren war der Film „Madame Rosa“ mit Simone Signoret als einer der besten Auslandsfilme nominiert. Er trat gegen wahrhafte Giganten an, wenn ich mich recht erinnere, sogar gegen einen Bunuel. „Madame Rosa“ war von einer ganz kleinen Firma produziert worden, die nicht das Werbebudget hatte, das den Konkurrenten zur Verfügung stand. Ein Freund sprach mich an: „Dies Jahr mache ich mir große Sorgen: Es gibt da einen wunderbaren Film, für den aber kaum Werbung gemacht wird. Ich fürchte, die academy wird ihn übersehen.“ Ich fragte ihn: „Ist es ein wirklich guter Film?“ „Ja, ein wunderbarer Film.“ „Dann wird ihn die academy nicht übersehen!“ „Madame Rosa“ gewann tatsächlich in dem Jahr.

Wenn Sie die Kategorie des „besten ausländischen Films“ als Beispiel zitieren, muß ich Ihnen aber entgegenhalten, daß gerade diese zu sehr fragwürdigen Preisvergaben geführt hat.

Ich gebe Ihnen da bis zu einem gewissen Grad Recht. Aber schauen Sie, wir wählen die jeweiligen Bewerber nicht aus, das geschieht in den Ländern selbst. Sehr oft sagt man mir: „Der beste französische oder deutsche oder italienische Film war aber nicht unter den Nominierungen!“ Wir mischen uns da überhaupt nicht ein, die Auswahl liegt bei speziellen Kommissionen in den Ursprungsländern der Filme. Aber: als ich Präsidentin wurde, reiste ich in die Länder, die für gewöhnlich die häufigsten Nominierungen erhalten: Spanien, Frankreich, Italien etc. Obwohl ich den Auswahlkommissionen nichts vorschreiben konnte, bat ich sie zumindest, in ihre Reihen nicht nur Bürokraten, sondern auch Filmkünstler aufzunehmen. Damals hat man uns das größtenteils zugesagt, und ich denke, das ist auch geschehen. Aber wir verpassen trotzdem immer noch eine Menge guter Filme.

Wie erklären Sie es sich, daß viele Künstler bei den Nominierungen ständig übergangen werden? Weil sie nicht Mitglieder der academy sind? Ich denke zum Beispiel an den bedeutenden Kameramann Gordon Willis.

Ich bin ziemlich sicher, daß Gordon Willis inzwischen Mitglied geworden ist, ich glaube sogar, daß er in den letzten Jahren auch nominiert worden ist. Daß man ihn ignoriert hat, mag auch ein wenig daran liegen, daß er hauptsächlich in New York arbeitet, nicht zur typischen Hollywood-Gesellschaft gehört. Deshalb ist er den Mitgliedern nicht so bekannt. Mit Sidney Lumet verhält es sich ganz ähnlich: Auch er arbeitet in New York und ist wenig bekannt.

Ich fürchte, es gibt ein gewisses Gefälle zwischen Ost- und Westküste, ich will nicht sagen, einen starken Chauvinismus auf der einen und der anderen Seite, aber vielleicht doch einen Mangel an Informationen. Immerhin existiert in New York eine großartige, gut funktionierende Filmproduktion. Wir haben auch viele Mitglieder dort, das größe Kontingent hinter den Mitgliedern, die aus Los Angeles stammen. Übrigens haben wir auch weltweit Mitglieder: in Deutschland, in Frankreich, in der Schweiz etc.

In den späten siebziger und frühen achtziger Jahren gab es eine große Differenz zwischen den Filmen, die Oscars erhielten, und denen, die die größten Kassenerfolge waren. Haben Sie nicht auch den Eindruck, daß sich dies in den letzten Jahren angeglichen hat?

Ja, ich sehe da auch eine zyklische Entwicklung, das hat es während der sechs Jahrzehnte, in denen die academy besteht, immer wieder gegeben. Ich habe den Eindruck, daß die „kiddie movies“, wie ich sie nenne, und die Science-fiction-Filme den Markt nicht mehr so stark dominieren. Wenn ich die Zeitung aufschlug, um einen guten Film auszusuchen, mußte ich früher feststellen, daß es einfach keine interessanten Filme gab. Ich sehnte mich danach, endlich einmal wieder richtige Menschen auf der Leinwand zu sehen! Zeitweise drängten diese Filme die Dramen oder die großen Filme eines David Lean oder anderer ins Abseits.

Lange Zeit kursierte das geflügelte Wort: „Die kids entscheiden darüber, welche Filme an der Kasse das große Geld einspielen, aber ihre Eltern entscheiden, welche Filme die Oscars bekommen!“ in den Fachzeitschriften.

Ja, aber das hat sich etwas geändert, das Filmangebot ist vielfältiger geworden. Die Gleichung „Geschäft versus Kunst“ geht nicht mehr ganz so leicht auf, Filme mit wichtigen Inhalten kehren zurück. Und die academy hat immer für Inhalte votiert, ganz gleichgültig, ob es die großen Erfolge waren oder Außenseiterfilme. Anspruchsvolle Inhalte, nicht allein in dramatischen Filmen, auch in einer Komödie wie „Moonstruck“, haben eine Chance, Filme, die etwas über Menschen aussagen.

Aber orientiert sich der Geschmack der academy wirklich nur an den Inhalten? Es sind doch traditionell die großen Prestigeproduktionen, die honoriert werden.

Ja, in der Hinsicht hat sich der Geschmack unserer Mitglieder im Laufe der Jahrzehnte nicht gewandelt: sie mögen den „wichtigen“, den „großen“ Film. In den letzten Jahren waren das unter anderem „Amadeus“, „Out of Africa“ und „The Last Emeror“ Wenn eine solche Großproduktion ihre Qualitäten hat, weiß die academy das zu schätzen. Und da die Mitglieder aus so vielen, auch technischen Bereichen der Filmproduktion stammen, bewundern sie einen großartigen Ton, eine brillante Photographie etc. Und wenn gleich alles bei einem Film zusammen kommt, wenn er darüber hinaus eine anspruchsvolle Geschichte und gute Schauspieler hat, fällt es der academy schwer, einen solchen Film zu ignorieren.