Zwei deutsche Sprachen?

■ Wie in Darmstadt die bundesdeutsche Lyrik verstarb: Leonce-und-Lena-Preise an DDR-Autoren vergeben

Holger Eckermann

Draußen vor der Tür im Schloßpark der Darmstädter Orangerie spielten Kinder Geiselnahme und Krieg, drinnen war vom wahren Leben keine Spur. 15 Nachwuchs-LyrikerInnen waren auserwählt und buhlten um die Gunst einer Jury, der von vornherein kein ausgefallener Geschmack zuzutrauen war. Immerhin saß Ulla Hahn drin, als Ersatz für Lyrik-Papst Marcel Reich-Ranicki, der dominant bislang vergeben hatte, um was es den LyrikerInnen in Darmstadt ging: den Leonce-und -Lena-Preis a 12.000 Mark, der renommierteste Lyrik-Preis in der Bundesrepublik für den Dichter-Nachwuchs unter 35.

Seit 1979 wird die Auszeichnung in Darmstadt vergeben, alle zwei Jahre zum „Literarischen März“. Durchaus namhaften LyrikerInnen wurde von hier aus der Weg in das 'FAZ' -Feuilleton geebnet. Ulla Hahn, Hans-Ulrich Treichel, Rolf Haufs, Ludwig Fels, Jan Koneffke und Rainer Malkowski etwa. Förderpreisträger sind neben anderen Anna Jonas, Sabine Techtel, Wiliam Totok, Michael Wildenhain und Richard Wagner geworden, letzter vor zwei Jahren mit einem Sonderpreis fürs politische Gedicht.

Dies Jahr blieb die Politik fast gänzlich auf der Strecke, die AutorInnen zeigten viel eher Vorliebe fürs ganz persönliche Gedicht. Für Beliebiges und kaum Notwendiges, trauten sich damit umso stolzer unters übersichtliche lyrische Schlachtenbummlervolk. 857 Möchtegernpreisträger hatten eine Auswahl Gedichte an ein Lektorat geschickt, dessen Auswahlkriterien höchst undurchsichtig sind, Karl Krolow, Hanne Juritz und Fritz Deppert spielten die erste Hürde als Geschmackszensoren. Sie trifft die bohrende Frage, ob sie hellwach rund 10.000 Gedichte gesichtet haben oder ob Lyrik derzeit tatsächlich kaum mehr als Blamables zu bieten hatte - zumindest die aus bundesdeutschen Landen frisch auf den Schreibtisch: „Der / Mond ist der / Mond ist der / Mond“ als „2489.Mondgedicht“ von Frank Lingnau spricht in seiner Kürze Bände davon. Oder das „60-Minuten-Ei“ von Barbara Maria Koos: „Im Intercity Göttingen-Hannover / hockt er kugelrunder Gnom / im hellblauen Pullover. /Kreuzworträtsel löst das kleine /Krümelmonster, elefantengraue / Würste sind die Beine. / Zuhause keine Frau und / keine aufblasbare Lola / schiebt er den Strohhalm tief / in seine Jojo Kindercola.“

Vordergründiger Erfolg statt Wirkung ist Anliegen bundesdeutscher LyrikerInnen geworden, Lyrik zum Zeitvertreib. Statt Kunst wird Literatur Kunstgewerbe. Andreas Degwitz aus Heidelberg hätte auch Werbetexter werden können, sein Sprungbrett ist der „Literarische März“: „Champagner / Liegt in der Luft / Prickelt / Macht Laune / Macht munter / Röcke fliegen / Hoch! / Übers Knie / Gebrochen gewagt / Flöhe im Kopf / Als wär‘ was gewonnen / Verrückt verhext / So leicht so locker / Gehupft wie gesprungen / Absätze knallen über das Pflaster / Hoppla nur rein / Ins Vergnügen / Ob Sommer ob Winter / Mit Frühlingsgefühlen / Champagner / Liegt in der Luft!“

Lyrik geht nimmer mehr „über Straßen und Plätze“, wie es im Sinne von Ingeborg Bachmann war. „Die Fülle von Texten, die auf uns zukamen“, so Karl Krolow zur taz, „waren mehr als sonst von dieser Art - persönlich, private Gedichte, da war eine gewisse Monotonie dabei.“

Mehr an „Empfindlichkeit und Qualität“ , so Krolow, haben da „als Glücksfall, der uns traf“, Autoren aus der zweiten deutschen Republik bewiesen. Kurt Drawert aus Leipzig, Durs Grünbein aus Dresden und Rainer Schedlinski aus Ost-Berlin heimsten drei von vier gegebenen Preisen ein. Ein Dutzend DDR-Autoren hatte Texte nach Darmstadt geschickt, vier davon kamen ad hoc in die letzte (Lese-)Runde, leider ohne Diskussionen. Nur Lutz Rathenow durfte nicht zu seiner Lesung reisen. Mühsam trat in seinem Falle auch manch bundesdeutscher Dichter aus seinem entpolitisierten Elfenbeinturm, um solidarisch ein Protestschreiben an Kurt Hager zu unterzeichnen. Vor seiner Lesung hatte der Exilrumäne Helmuth Frauendorfer dazu aufgerufen und konnte sich nur unter der Bedingung durchsetzen, daß der von allen Teilnehmern unterzeichnete Appell nicht presseöffentlich werden soll. Die Autoren wollten den „Literarischen März“ nicht zu Rathenows Sache machen, der sich selbst längst mit penetrantem Tamtam an die Jury und Darmstädter Medien gewandt hatte. Seine Gedichte erschienen niemand als preisrelevant, dagegen galten die anwesenden Exilrumänen als preisverdächtig, gingen aber verdächtig leer aus: Neben Helmuth Frauendorfer hatten Johannes Zultner und vor allem Horst Samson Beeindruckendes gelesen: „Das Gedicht redet in Narben. Mehr sagt es nicht“, las der 34jährige Samson, doch seine Trauer faszinierte die Jury nicht: „Der Landsegen hängt schief / über meinem Gedicht. Ja, ich gehe / mit meinem Schreibtisch unterm Arm / ins mögliche Nichts.“

Ins Nichts führte auch der Versuch des 'FAZ'-Favoriten Matthias Herrmann, als Oberlehrer eine Vorlesung statt Dichterlesung abzuhalten, vor jedem seiner Texte gab er redlich, doch oft vorlaut Kommentare ab. Er ging baden mit dem Unterfangen, den Holocaust in dichterische Formen zu fassen: „Was leuchtet vom Dnjepr wie Gottesschein / Hör's näher & näher brausen. / Es zieht sich heran in gottfrommen Reihn, / & mächtiger Hufschlag schmettert darein. / Es hören's die Juden mit Grausen, / & und wenn ihr die himmlischen Recken fragt: / Das ist Bogdans wilde verwegene Jagd...“

Unauffälliger dagegen Texte wie das „Städtebild“ des Westberliners Taygun Nowbary „Jerusalem“: „An welchen Mauern sollen / Jene Klagen / Die von Mauern umgeben sind.“ Leise, aber eindringliche Lyrik im Kontrast zum aufdringlichen Wortspiel „Gestatten“ von Anton G. Leitner: „Ist es nicht erlaubt / zu sagen hoppla / jetzt komm ich / und wer seid ihr / auch so ein Schandfleck auf der Landkarte / und voller Nächstenliebe / drückt er den Leuten / seinen Stempel auf / dem besten Weg / nach oben.“

Der Schweizer Rolf Lappert brachte in einer Verszeile manches auf den Punkt, was sich in Darmstadt präsentierte: „Alles reimt sich, und nichts ergibt einen Sinn.“ Auch Lappert las unauffällig unter ferner liefen: „Das Leben liest sich stockend. Eine glatte Sprache windet sich im Hirn.“ - Der Darmstädter Grundwiderspruch.

Die 32jährige Lioba Happel bekam höchst umstritten einen Förderpreis, nicht wenige unkten: als Alibifrau. Nur wenige Frauen hatten sich diesmal beteiligt. Auch ihre Gedichte der neuen deutschen Beiläufigkeit, ja Gefälligkeit, lassen sich vorn oder hinten einkürzen, ohne daß dem Leser zum Verständnis etwas fehlt. Auch die Autorin zweifelte in ihren Texten, was das Gedicht sagen soll: “... Verzeihen Sie, ich kann keinen Reim für Sie finden / Ein Gedicht, mein Herr / ist eine Scheußlichkeit / Es hat sich der Schönheit verpflichtet / Es begnadigt nicht, ist / wie dieser strahlende Mittag über dem Meer / das böse Gewissen der Welt.“

Das gelungenste Gedicht des Wettbewerbs verfaßte zensurerfahren der Ostberliner Lyriker Rainer Schedlinski, Herausgeber der inoffiziellen DDR-Literaturzeitschrift 'Ariadnefabrik‘ und nach langem Anlauf gerade vom Aufbau -Verlag „außer der Reihe“ publiziert: „geheimratsgötter walten leise / über deine worte blind / täglich zeigt uns das totale / daß wir nur fragmente sind / auch sie kämpfen um symbole / sind von freund und feind gespalten / die gesinnungsastrologen / wissen nicht, wie solln sies halten / in der tinte saugt der dichter / aus den eisbergspitzen blut / wenn die farben wieder frei sind / ist der mensch auch wieder gut.“

Für Schedlinski hat der Dichter das Vertrauen in die Sprache verloren, denn der Staat hält die Begriffe besetzt. Der Dichter gewinnt Sprache neu: „Mit der nüchternheit eines hundes vergehen / auch die tage vergehen in der geometrie / des fleisches naturschauspiel an den ufern / des flusses die mauern der ämter die / möwen bleiben nicht fliehen nicht bleib / einen januar lang einen dezember & / noch einen augenblick unnachweisbar / in diesem namenlosen patent / amt des endgültigen impressionismus / abrakadabra dieses gedicht / schrieb mir der fluß auf die ufer / der stirn um im bilde zu bleiben.“

Gedichte und Rätsel, die Wirkung zeigen. Wer in Darmstadt sollte derlei verstehen? Heiner Müller hat in 'Sinn und Form‘ (1/89) definiert, was die Qualität solcher „anderer“ Kunst ausmacht. Die Kriterien sind Wirkung oder Erolg. „Erfolg ist, wenn die Leute sich zurücklehnen und sagen: Jetzt haben wir etwas erfahren, jetzt wissen wir, was gemeint war, und es war schön. Wirkung bedeutet Langzeitwirkung anstelle dieser kurzzeitigen Übereinstimmung, die Erfolg heißt. Wirkung ist es insofern, weil es wirklich ins Leben eingreift, weil es die Leute länger beschäftigt.“

Zur gleichen Zeit ließ Klaus Höpcke im Wochenblatt 'Sonntag‘ verlauten, eine „andere Literatur der DDR“ als Gegenstück zur ihr zu installieren, sei „politische Manipulation“ in der BRD.

In Darmstadt war nicht viel zu manipulieren, denn die Zuhörer kamen hier aus dem Staunen über die neue DDR -Literatur nicht heraus. „Da ist noch viel zu entdecken“, so Karl Krolow zur taz, „was hier wirken kann.“ Doch nur eine Zuhörerschaft setzte Schedlinski auf Platz eins einer inoffiziellen Jurierung und schenkte ihm einen Schokoladenosterhasen - für „Lyrik, die besondere Haken schlägt“. Der hausbackenen Darmstädter Jury dagegen war nicht geheuer, was da geschah, und sie gönnte Schedlinski nur halbherzig einen halben Förderpreis. „Wenn Sie sich ansehen, wer in der Jury sitzt“ - neben den AutorInnen Ulla Hahn, Jürgen Becker, Harald Hartung und Walter Helmut Fritz noch drei städtische Vertreter - „können Sie sich vorstellen, welche Vorlieben hier existieren“, verriet der Darmstädter Bürgermeister Peter Benz nach der vierstündigen Jury-Debatte und deutete an, warum ein Eigenbrötler wie Schedlinski keine reelle Chance hat. Die Jury entschied sich für das sicherere Pferd aus der DDR, als pflegeleichtere Variante: Kurt Drawert, wohlverdienter Sieger zum einen, zum anderen aber schon von Lektor Krolow im Vorfeld empfohlen und favorisiert. Er hat den 33jährigen schon vor längerem schätzen gelernt, will Drawert letztlich eine Krolow -Werkauswahl bei Reclam in Leipzig herausgeben. Drawert geht am souveränsten mit Sprache um, eckt aber nicht an. Als Beispiel sein „Einfacher Satz: „Gründlich zerstören sich / die Bilder, / und ich bin es leid, / ihnen zu folgen, / als wären sie eine Frau / die die Zeit ist / zwischen Mai und September, / in der dem Jahr / noch ein Begriff fehlt / für die Farbe, / die langsam herabbricht, / vom Holz einer Parkbank, / leer und kalt / überm Schnee.“

Einstimmig sei zuletzt das Votum auf ihn gefallen. Strittiger war dagegen Drus Grünbein, der sich mit Rainer Schedlinski 6.000 DM als Förderpreis teilen muß. Grünbein, mit 26 Jahren der Jüngste im Bunde, mag die eigentliche Entdeckung in Darmstadt sein. Er sieht sich selber als Autodidakt, der still versucht, „im Winterschlaf einer Gesellschaft lebendig zu bleiben“. Er, Drawert, Schedlinski und andere aus der DDR werden noch hören und staunen lassen, wie tote Sprache wieder auflebt: „Du verfolgst deine eigen / sinnigen Pläne du stellst / die Bilder um ordnest die Augenblicke aber Du hörst / ihnen nicht zu wie sie / ganz anders ordnend ihre / eigensinnigen Pläne ver- / folgen wie sie die Bilder / umstellen zufällige Gesten / zeigen in denselben Räumen / sich anders bewegen bemüht / Dir nicht zuzuhören. Das / ist der springende Punkt.“ (Durs Grünbein, Monologisches Gedicht, No.4)