Schwindende Gelassenheit

■ Mit den Birkenstockträgern, die der bundesdeutschen Unwirtlichkeit entflohen, verflüchtigte sich auf den Kanarischen Inseln nicht nur das beruhigende "manana" immer mehr

Ulf Mailänder Schwindende Gelassenheit

Mit den Birkenstockträgern, die der bundesdeutschen Unwirtlichkeit entflohen, verflüchtigte sich auf den Kanarischen Inseln nicht nur das beruhigene „ma_nana“ immer mehr

Früher war Peter Rechtsanwalt und verdiente kein schlechtes Geld. Ein bißchen links war er schon immer, gegen Atomkraftwerke und Umweltsauereien sowieso, und als die Sache mit Tschernobyl passierte, stand sein Entschluß fest: Nix wie weg. Seine Freundin Eva, von Beruf Krankenschwester, sagte spontan ja, und so warfen sie gemeinsam alles hin, packten ihren VW-Bus mit den nötigsten Klamotten, fuhren viele Kilometer gen Südwesten, setzten über per Schiff und landeten am dritten Morgen auf „ihrer“ Trauminsel im Atlantik.

Früher gab es auf La Palma viel Ruhe und viele Bananen. Die Bananen werden zwar immer noch angebaut, aber, wenn die Märkte erst offen sind, haben sie gegenüber der Konkurrenz aus Südamerika keine Chance. So werden sie noch bis in die späten Neunziger als auslaufendes Produkt subventioniert werden. Ruhe findet man zwar noch hoch im Norden, wo die Passatwinde über die zerklüfteten Waldschluchten treiben; in Los Llanos hingegen grassiert das Goldgräberfieber: Autovermietungen schießen wie Pilze aus dem Boden, Appartmenthäuser wachsen über Nacht in den Himmel, und die Straßen sind verstopft von blitzenden Landcruisern. Neulich schrieb ein Deutscher, der seit zehn Jahren dort wohnt, in einem Gastkommentar der Provinzzeitung 'El Dia‘, daß die Insel in kurzer Zeit eine Entwicklung durchgemacht habe wie seine Heimat seit Kriegsende. Die „Tranquilidad“ (Gelassenheit), berühmtester palmerischer Wesenszug, befindet sich auf dem Rückzug.

Peter und Eva gehören zur Generation der Tschernobyl -Flüchtlinge. Als die Insel plötzlich von land- und haussuchenden Birkenstockträgern überflutet wurde, verdoppelten sich im Nu die Preise. - Seither blüht das Geschäft mit der Spekulation. Wer schon früher den Riecher hatte, daß die Insel stark im Kommen ist, war fein raus. Klaus Röder, Ex-Multifunktionär der Berliner Alternativszene, kaufte 1982 - im Zeichen der Nato -Nachrüstung und des Waldsterbens - ein paar Hektar Land, um für sich und seine Freunde eine „Arche Noah“ zu bauen. Heute ist er, nach eigenem Bekunden, von allen Deutschen derjenige, „der das dickste Ding laufen hat“. Aus der verträumten Fluchtidylle wurde ein Urbanisationsprojekt. Die mit einem einheimischen Geschäftspartner gegründete Firma Contacto - ursprünglich Dienstleistungsinternehmen für Touristen - mutierte zu einem Baukonzern mit einem geschätzten Investitionsvolumen von 100 Millionen Mark. ***

Unweit von „Röderland“, mitten in der Lavawüste von Todoque, soll nach dem Willen der Stadtväter von Los Ilanos eine Art palmerisches Disneyland - ein Wasserpark - entstehen; unten an der Küste bei Chaco Verde wird schon kräftig für den Yachthafen gebaggert und drüben auf der Ostseite bei Cancajos wuchern metastasenartige Appartmentkomplexe, dürftig getarnt als kanarische Häuserzeilen. An Warnungen, sich dem Tourismus ökonomisch auszuliefern, fehlt es nicht: Linke wie Konservative verteidigen den vorgeblich soliden Boden der Landwirtschaft. „Turismo es el desarollo del subdesarollo“ (Tourismus ist die Entwicklung der Unterentwicklung) steht an eine Mauer bei El Paso gesprüht. Aber Landwirtschaft unter EG-Herrschaft verheißt ebenfalls eine ungewisse Zukunft. Die Investitionsruinen aus der Zeit der ersten Touristik-Euphorie zu Beginn der siebziger Jahre stehen noch als unbeachtete Mahnmale in der Landschaft. Neue Chance, neues Glück.

Während in der Presse die Diskussion über das Für und Wider des Tourismus tobt, macht sich in der Bevölkerung eine xenophobische Stimmung breit, die sich auch gegen die auf der Insel ansässigen Ausländer richtet. 4-5.000 sind es schätzungsweise, vor allem Deutsche und Schweizer, sechs bis sieben Prozent der Einwohnerzahl, doch mit steigender Tendenz. Die Angst vor der „Invasion“ der Fremden, die dank ihrer kräftigeren Währung alles Land zu verschlingen drohen, ist zum beliebten Gesprächsgegenstand geworden. Sogar eine kleine Zeitschrift namens 'Irichen‘ beschäftigt sich eigens mit diesem Thema, warnt vor Landverkäufen an Ausländer und der Aufgabe traditioneller Lebensformen. ***

Peter lebt heute im Nordwesten der Insel bei Tijarafe auf dem „Schwabenhügel“ in einem alten, mittlerweile renovierten, kanarischen Bauernhaus und trägt sich mit dem Gedanken, eine „gestoria“ (Schreibbüro) zu eröffnen; derweil zehrt er von Erspartem. Eva hat sich von ihm getrennt und ist zu einer Freundin ins Aridane-Tal gezogen. Manchmal begegnen sie sich am Nacktbadestrand von Las Monchras. Viele, die damals im Katastrophenschock auf der Insel landeten, sind schon wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Dafür sind andere gekommen, Leute wie er, in den besten Jahren, die die Schnauze voll vom Geschäft oder von der Politik haben und sich nach einem ruhigerem, einfacherem Leben sehnen.

Wer danach sucht, findet es nur noch auf dem Land. Hier ist Eile nach wie vor ein Fremdwort. Wer des Weges geht und der Sprache mächtig ist, wird gerne auf einen Cafesito und ein Schwätzchen eingeladen, und ehe man sich versieht, bekommt man einen Beutel Orangen oder Kartoffeln mit auf den Weg. Als ich Peter kennenlernte, erzählte er mir die Geschichte von einem alten Mann, der eines Tages an seinem Grundstück vorbeispazierte und ihn fragte, ob er „boneats“ (Süßkartoffeln) möge. Auf sein Nicken hin führte er ihn zu einem unweit gelegenen Acker, hackte dort mit zitternden Armen, aber ohne auf Peters Hilfsangebote einzugehen, einen Korb voll Kartoffeln aus der Erde und bestand obendrein darauf, ihm den Korb zu schenken.

Die freundliche, gebende Haltung der Palmeros kann jedoch schnell in Ablehnung umschlagen, wo sie unerwidert bleibt. Michael, zum Beispiel, ein Ex-Trödler aus Frankfurt, hat es sich mit den Nachbarn verdorben, weil er in der irrigen Annahme, um das unbewirtschaftete Land in seiner Umgebung kümmere sich ohnehin niemand, ungefragt seinen Esel dort weiden ließ; oder Monika aus Garafia, die kurzerhand mit dem Carterpillar über Nachbars Land einen Weg schieben ließ, um ihres bequemer zu erreichen. Ebenfalls großen Unwillen erregt, wer (auf dem Land) sein Grundstück umzäunt; freies Wegerecht ist auf La Palma nicht nur ein ungeschriebenes Gesetz, sondern in Anbetracht der geringen Erschließung durch Straßen und Wege eine alltägliche Notwendigkeit. Zu Grenzen haben die Palmeros nämlich ein besonderes Verhältnis: Sie werden geachtet, aber kaum markiert. Auch im Grundbuch wird das Gelände nicht kartografisch erfaßt, es verzeichnet nur die Namen der Nachbarn, und bei Streitigkeiten wird ein Schiedsgericht aller Anrainer berufen. Auf alle Fälle hat sich bis heute ein sozialer Umgang mit Besitz und Eigentum erhalten, der sich gegen deutsche Eigentümelei abhebt. ***

Umschlagplatz für Geschichten ist die Plaza von Los Llanos. Hier trifft sich die Deutschenszene vorzugsweise vormittags am Kiosk bei Cafe con leche und tauscht den neuesten Tratsch aus: Wer sich mit wem in der Waldorfschulgruppe gestritten hat, ob demnächst wieder eine Vollmondfete am Nacktbadestrand ist, und wie es einem ergehen kann, wenn man sein Auto zu importieren versucht, - aber auch nützliche Informationen gibt's dort frei Ohr: zum Beispiel, in welchem Lebensmittelgeschäft man nachfragen muß, um noch einen Sack des seit Wochen überall vergriffenen Zements zu ergattern, oder wie man es anstellt, Sonnenkollektoren durch den Zoll zu schleusen. Manchmal haben diese Geschichten etwas phantastisch Wucherndes wie manche Passagen in lateinamerikanischen Romanen. Dann wieder stellt man ernüchtert fest, daß die Verhältnisse sich immer mehr normalisieren. Manfred, der seit drei Jahren an einem Haus bastelt, das er später gewinnbringend zu verkaufen hofft, gehört zu denen, die schon wieder auf dem Absprung sind: „Früher konnte man hier einigermaßen frei leben, jetzt gleichen sich die Lebensbedingungen immer mehr an.“ Besonders wurmt ihn, daß er sein Auto beim (neu eingerichteten) TÜV vorführen soll. Sein nächstes Paradies: Madagaskar.