Sowjets vor dem demokratischen Erbfall?

In der UdSSR wird am Sonntag ein neues Parlament gewählt / Erstmals konkurrieren mehrere Kandidaten um ein Mandat für den neuen Kongreß der Volksdeputierten / Ein Schritt in Richtung Reform des politischen Systems / Sind Partei und Administration zur Machtteilung bereit?  ■  Von Matthias Geis

Mit den Wahlkampagnen zum Volksdeputiertenkongreß erlebt die sowjetische Gesellschaft in den letzten Wochen einen Politisierungsschub, wie ihn selbst eingefleischte Reformbefürworter kaum für möglich gehalten haben. Während sich bislang die Reformer eher dem Problem ausgesetzt sahen, wie eine noch immer vom Trauma des stalinistischen Terrors geprägte, jahrzehntelang einem Kommandosystem unterworfene Gesellschaft für die Perestroika zu aktivieren sei, müssen sie heute darum fürchten, ob sie die aufgebrochene Ungeduld weiter Teile der Bevölkerung längerfristig in das Konzept eines moderaten, schrittweisen Umbaus einbinden können.

Die Mahnung jedenfalls, die Gorbatschow Ende letzten Jahres auf der Wahlrechtsdebatte im Obersten Sowjet erteilte, man solle „vor der Vielfalt der Ansichten und Emotionen nicht den Kopf verlieren“, wird manchem Parteikader, der im Nominierungsverfahren gegen einen „ungedienten“, aber überzeugenderen Kandidaten durchfiel, bitter aufgestoßen sein. Dennoch bot auch das neue Wahlgesetz, das die Nominierung der Bewerber nach einer „breit angelegten und freien Debatte“ vorsieht, genügend Schlupflöcher, um „altgediente“ Parteikader und Apparatschicks auch ohne lästige Befragungsprozedur auf die Wahlliste zu befördern. Denn die Bezirkswahlversammlungen, die für die Listenerstellung zuständig sind, entpuppten sich in vielen Fällen als undemokratisch zusammengesetzte, von lokalen Behörden dominierte Kommissionen.

So erklärt es sich, daß auch am Sonntag noch jeder zehnte Bewerber ein konkurrenzloser Einzelkandidat ist. Im Landesdurchschnitt allerdings bewerben sich fünf Kandidaten um je ein Mandat im neuen Kongreß.

Ein Drittel der 2.250 zukünftigen Volksdeputierten konnte allerdings auf aufreibende Wahlkampagnen gänzlich verzichten. Sie wurden von gesellschaftlichen Organisationen wie Partei, Komsomol, Künstlerverbänden oder der Akademie der Wissenschaften direkt in die Volksvertretung nominiert. Die Kritik an dieser Regelung wurde durch die Nominierungspraxis einzelner Institutionen bekräftigt. So kam etwa Andrej Sacharow bislang nicht auf die Liste der Akademie der Wissenschaften, weil sich deren erweitertes Präsidium in altgewohnt-autokratischer Manier über das Votum von 50 Akademie-Institutionen hinwegsetzte.

Wegen solcher Praktiken, aber auch, weil die Unterstützung der Reformpolitik durch die Gesamtbevölkerung kaum so deutlich ausfallen dürfte wie etwa in Moskau, sind die zu erwartenden Mehrheitsverhältnisse im Volksdeputiertenkongreß schwer abzuschätzen. Unklar bleibt deshalb auch, ob das „höchste Machtorgan des Staates“ wirklich die Rolle spielen kann, die ihm von den Reformern zugedacht wird. Die von Gorbatschow propagierte Strukturreform des politischen Systems beinhaltet eine eindeutige Stärkung des Parlaments gegenüber den staatlichen Exekutivorganen. Der neue Oberste Sowjet, dessen 422 Mitglieder der Volkskongreß aus seinen eigenen Reihen wählt, wird in ein Berufsparlament umgewandelt.

Der bisherige Oberste Sowjet trat nur an wenigen Tagen im Jahr zusammen, um die von der Staatsbürokratie gemäß den Parteidirektiven ausgearbeiteten Beschlußvorlagen abzusegnen. Demgegenüber soll das Parlament in Zukunft reale, nicht nur formal-repräsentative Gesetzgebungskompetenz erhalten. Darüber hinaus soll es zu einer Kontrollinstanz gegenüber der Staatsbürokratie und den Ministerien ausgebaut werden.

Ob diese herkulische Aufgabe gelingt, ist weniger von den Mehrheitsverhältnissen im Parlament, als von den Beharrungskräften in Bürokratie und Partei abhängig. Hierin liegt der Grund, der - bei allen demokratischen Ansätzen die Bedeutung der bevorstehenden Wahlen entscheidend relativiert.

Das neue Parlament ist der - potentielle - Erbe eines Teils der Macht, die heute noch von Partei und Administration gehalten wird. Ob der Erbfall je eintritt, liegt nicht in seiner Kompetenz. Im Fahrplan der politischen Strukturreform spielt die Partei solange die alles entscheidende, dirigistische Rolle, bis die unangefochtene Machtposition der Reformer eine partielle Selbstentmachtung der Partei zuläßt. Solange wird der Generalsekretär zugleich Vorsitzender des Obersten Sowjet bleiben und die konsequente Trennung von Staat und Partei, von Legislative und Exekutive auf sich warten lassen. Immerhin, für die Umsetzung der Reformstrategie ist es nicht unerheblich, daß die sowjetische Bevölkerung am Sonntag erstmals in ihrer Geschichte eine weitgehend demokratisch legitimierte Institution etabliert - ein Parlament im Wartestand.

Die Einübung in die Demokratie, wie sie in den letzten Wochen in vielen Wahlveranstaltungen stattfand, hätte auch der gesellschaftlichen Avantgarde gut gestanden. Doch die Partei präsentierte in altbewährter Manier für die ihr zustehenden hundert Mandate im neuen Kongreß hundert Kandidaten und umschiffte so das Problem demokratischer Abgeordnetenauslese.