Wahlkampf in der Straßenbahn

Auch in Leningrad hat der Wahlkampf die Bevölkerung politisiert  ■  Von Michael Rediske

Leningrad (taz) - Der Kandidat besteigt die Straßenbahn. Plakate hat er mitgebracht, geziert mit seinem Foto und einem etwas lang geratenen Lebenslauf. Drei Haltestellen nimmt er sich Zeit, um sich an diesem Morgen, drei Tage vor der Abstimmung, einigen seiner verdutzten WählerInnen vorzustellen. Als er aussteigt, um in der Gegenrichtung auf Stimmenfang zu gehen, beginnt die Diskussion unter den Fahrgästen: die Inflation, das neue Wahlsystem, der umstrittene Bau eines Dammes, der die Leningrad vorgelagerte Bucht vor dem Tidenhub des Baltischen Meeres schützen soll und der erst einmal halbfertig liegengelassen wurde, weil schon jetzt das Dreckswasser der Fünf-Millionen-Stadt nicht mehr ablaufen kann und die Bucht total verseucht ist.

„Seid ihr für die Eindeichung? Seid ihr für die ökologische Zerstörung? Dann wählt Alexej Alexejewitsch!“ Wählerinitiative vor einer U-Bahn-Station - diesmal gegen den einzigen, in diesem Bezirk aufgestellten Kandidaten. In dieser Woche ist eine Initiativgruppe zu den Wahlen aktiv geworden, die von informellen Gruppen wie „Perestroika“, der Umweltgruppe „Delta“ und der antistalinistischen Gesellschaft „Memorial“ getragen wird. Nicolai Katurov, ein schnauzbärtiger Filmingenieur, ist durch die Glasnostwelle während der Diskussion um die Verfassungsreform politisiert worden und arbeitet jetzt bei „Memorial“ und in der WählerInneninitiative mit. „Früher haben meine Eltern für mich den Wahlschein ausgefüllt, jetzt - mit 30 Jahren - bin ich zum ersten Mal aktiv geworden.“

Von der Wahl selber versprechen sich die Memorial -Aktivisten wenig. Die beiden Kandidaten, die bei der Vorauswahl von informellen Gruppen vorgeschlagen wurden, sind abgeschmettert wurden. Warum? „Wir haben schlechte Propaganda gemacht, es sind immer noch viel zu wenig Leute von den informellen Gruppen, die da aktiv sind“, meint Tatiana Pritykina, die zur Leningrader Memorialleitung gehört und hauptberuflich für den (staatlichen) sowjetischen Kulturfonds arbeitet. Wie viele Leute sich denn in Leningrad an dem Prozeß der Kandidatenauswahl beteiligt haben? „Zehn Prozent - aber nicht der Wählerschaft, sondern zehn Prozent der Intellektuellen.“

Die Arbeiterklasse hat bei der Demokratisierung von unten mit Sicherheit nicht die Führung inne. Zum Beispiel Sergeij, ein 25jähriger Steinmetz: Er hat in seinem Stadtbezirk Newski, einem Riesen-Proletarierviertel mit den typischen vierstöckigen Leningrader Wohnblocks, nichts von den Wählerversammlungen mitbekommen, obwohl sie in den Zeitungen angekündigt wurden.

Warum, erfahren wir, als wir mit ihm zusammen die abendlichen Fernsehnachrichten anschauen. An das, was da über die Wahlen erzählt wird und was die Kandidaten an Wahlversprechen loslassen - daran glaubt er sowieso nicht. Für ihn lügen die Medien alle, auch die Perestroika freundlichen sind da keine Ausnahme. Partei ist Partei. Wozu also Zeitung lesen?

Wie sagte Tatiana von der Memorial-Gruppe? „Das Wichtigste an diesen Wahlen ist der Erziehungsprozeß. Sie sind eine erste Schule der politischen Bildung.“ Die politische Alphabetisierung dauert offenbar doch länger als ein Wahlkampf.

mr