„Jetzt nicht die Verkehrspolitik den Regierenden überlassen“

■ Konkretisierende Überlegungen für eine rot-grüne Verkehrspolitik, die mit steigenden Autozahlen und einer armen BVG fertig werden muß

Die Verhandlungspartner stimmten überein: Die Zunahme des Autoverkehrs ist „nicht länger hinnehmbar“, schon das heutige Ausmaß „weder umwelt- noch stadtverträglich“. So das Koalitionspapier. Ziel der Senatspolitik ist eine Trendumkehr zugunsten des öffentlichen Nahverkehrs, des Fahrradverkehrs und der Fußgänger - mithin eine Reduzierung des Autoverkehrs.

An diesem Ziel wird der Senat zu messen sein, und ob es erreicht wird, ist offen. Dabei bestehen meine Zweifel nicht nur darin, daß der Zeitraum von vier Jahren für eine echte Umkehr der Entwicklung zu kurz ist. Fraglich ist insbesondere, ob der Senat bei den absehbaren Auseinandersetzungen die nötige Konfliktfähigkeit beweisen wird und ob das Koalitionspapier dafür eine ausreichende Grundlage bildet.

Nach Abschluß der Ressortverhandlungen stellt sich diese Problematik unerwartet auch als eine personelle heraus. Mit Horst Wagner wird das Ressort künftig von einem Senator geführt, der in seiner Fraktion bisher verkehrspolitischer Außenseiter war, weil er sich beispielsweise nicht generell gegen weiteren Schnellstraßenausbau aussprach.

Ihm soll nicht Illoyalität gegenüber der Koalition unterstellt werden. Ob er bei Konflikten mit den bekannten Lobbies das nötige Rückgrat hat, muß sich erweisen. Statt mit Katzenjammer auf die Person des Senators zu reagieren, sollte mit sinnvollen inhaltlichen Vorstößen agiert werden, um der Koalition und ihrem Senator den Rücken zu stärken. Auch für die Initiativen gilt es, die Zusammenarbeit mit dem Verkehrssenator zu suchen.

Eine Million Autos?

Im vergangenen Jahr hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung prognostiziert, daß die Zahl der PKWs in den nächsten zehn Jahren um 200.000 steigen würde. Gleichzeitig würde die BVG ein Viertel ihrer Fahrgäste verlieren. Selbst bei einer massiven Förderung des öffentlichen Nahverkehrs zu Lasten des motorisierten Individualverkehrs ließe sich diese Tendenz nur mildern, nicht aber abwenden. Bei einer immer noch deutlichen Zunahme der KFZs wäre demnach bestenfalls eine leichte Verringerung der Fahrten mit dem Auto möglich.1

Diese düsteren Voraussagen sind keineswegs aus der Luft gegriffen. Sie beruhen vor allem auf der sich verändernden Altersstruktur der Bevölkerung (verhältnismäßig mehr jüngere Menschen) und auf dem gesellschaftlich ungebrochenen „Wert“ des Automobils. Wie hartnäckig diese Wertestruktur ist, läßt sich am besten in der AL-typischen WählerInnenschaft erkennen, auf deren individuelle Verkehrsmittelwahl die Auto -Kritik nahezu keinen Einfluß hat.

Unter solchen Bedingungen durch Verkehrspolitik eine Tendenz bewirken zu wollen, ist ein sehr schwieriges Unterfangen. Deshalb gehen alle relevanten VerkehrswissenschaftlerInnen davon aus, daß die verkehrspolitischen Maßnahmen auf ganzer Breite angelegt werden.

Im Klartext heißt das: Es darf nicht nur um die Förderung des öffentlichen Verkehrs durch günstige Tarife und bessere Angebote gehen. Mindestens ebenso wichtig ist es, den faktischen Vorrang des Autoverkehrs zu beseitigen, zum Beispiel durch flächendeckende Temporeduzierung und eine restriktive Parkplatzpolitik. Auch an eine höhere finanzielle Beteiligung der AutofahrerInnen an den von ihnen verursachten sozialen und ökologischen Kosten muß gedacht werden.

Im Koalitionspapier finden sich die genannten Faktoren ausnahmsweise wieder, nur in unterschiedlicher Konkretion und Deutlichkeit. Das ist eine „Kann-Bruchstelle“ - zwar nicht für die Koalition, aber für ihre Verkehrspolitik.

„Kann-Bruchstelle“

Sehr präzise sind die Vereinbarungen zum öffentlichen Nahverkehr. Für die Wiederinbetriebnahme der S-Bahn ist ein genauer, sehr kurzfristig angelegter Zeitplan festgeschrieben worden. Die Investitionsmittel werden von 170 auf 380 Millionen Mark pro Jahr erhöht: ein Reisenerfolg. Ähnlich positiv sind die Abmachungen zum Umwelttarif anzusehen. 65 Mark soll die Monatskarte kosten, 50 Mark im Abonnement. Damit sind zwei wichtige Pluspunkte rot-grüner Senatspolitik vorgezeichnet.

Schon etwas ungenauer sind die Festlegungen zum Bus-Spur -Netz, bei denen ein räumlicher Umfang nicht durchgesetzt wurde. Hier müssen die einzelnen Streitpunkte in den Stadtteilen erst einmal durchgestanden werden. Bezüglich des von der AL angestrebten Zehn-Minuten-Takts im Busverkehr blieb es bei einer Absichtserklärung, denn die Finanzierbarkeit muß noch geklärt werden.

Beim Thema Geschwindigkeit im Straßenverkehr konnte ein weitreichender Kompromiß erzielt werden. Tempo 50 soll nur noch in Straßen gelten, in denen Verkehrsfunktion eindeutig überwiegt und keine Unfallschwerpunkte vorhanden sind. Damit sind auch die Hauptverkehrsstraßen nicht länger tabu. In Straßenzügen wie der Kant-, Turm- oder Karl-Marx-Straße würde genau wie in allen überwiegenden Wohngebieten Tempo 30 gelten. Aber die Umsetzung ist eine Frage der Praxis.

Obwohl die SPD die Parkplatzfrage seit langem ins Zentrum ihrer eigenen Argumentation gestellt hat, war sie nicht bereit, der Stellenplatzreduzierung im Koalitionspapier das nötige Gewicht zu geben. Dort heißt es nunmehr lediglich, der Senat werde ein „flächensparendes Stellplatzkonzept zur Förderung der Attraktivität des öffentlichen Verkehrs entwickeln“. Für die VerkehrspolitikerInnen von SPD und AL heißt das: Stellplatzreduzierung vor allem dort, wo ein Gebiet durch die BVG gut erschlossen ist oder etwa eine Busspur hin soll. Mit der Vereinbarung kann also sehr viel getan werden, klar fixiert ist es aber nicht.

Angenommen, die rot-grüne Koalition unterliegt auf den angedeuteten Konfliktfeldern, so ließe sich folgern, daß sich Erfolge und Mißerfolge noch immer die Waage hielten, weil die Umweltkarte und der S-Bahnbau auf der positiven Seite lägen. Doch das ist zu einfach. Das Szenario läßt vielmehr ein ausgesprochenes verkehrspolitisches Fiasko befürchten.

Der Grund liegt in folgendem: Alle Beispiele anderer Städte (Freiburg, Zürich, München u.a.) zeigen zwar, daß durch attraktive Angebote des öffentlichen Verkehrs neue Fahrgäste gewonnen werden können. Aber über einen gewissen Rahmen gehen die Erfolge nur hinaus, wenn zugleich die „Angebote“ für den motorisierten Individualverkehr beschränkt werden oder bereits sind. Dafür ist vor allem das Stellplatzangebot an den Zielorten (z.B. den Arbeitsplätzen) entscheidend, so daß die Stellplatzpolitik zu den wichtigsten verkehrspolitischen Hebeln gehört.

Mit „Angeboten“ für den Autoverkehr ist Berlin überdurchschnittlich gut bestückt. Das betrifft sowohl das im Vergleich zu anderen Millionenstädten sehr großzügige Straßennetz (auch ohne neue Schnellstraßen) als auch die Ausstattung mit Parkplätzen. Erst kürzlich hat das Deutsche Institut für Urbanistik diesen Umstand als entscheidenden Grund für den übermäßig hohen Autoverkehrsanteil in Berlin kritisiert.2

BVG-Misere

Gelingen die Vorhaben zum Bus-Spurnetz, zur Geschwindigkeitsreduzierung und zum Stellenabbau also nicht oder nur zum kleineren Teil, so dürften sich auch die Fahrgastgewinne der BVG in Grenzen halten.

Das führt zum nächsten Problem: Abgesehen von den gesicherten Geldern für Investitionen im Bahnbau werden auf die BVG durch die Umwelttarife und die neuen S-Bahnstrecken erhebliche Summen an zusätzlichen Betriebskosten zukommen. Ein Ausgleich durch Einsparungen im Busnetz wäre weder im Sinne der Koalition noch hinreichend finanzwirksam.

Folglich hängt alles vom Umfang des Fahrgastzuwachses ab. Nach groben Berechnungen müßten zwischen 300.000 und 500.000 zusätzliche Fahrgäste pro Werktag befördert werden, um die höheren Kosten auszugleichen. Das entspricht einem Zuwachs von 15 bis 25 Prozent. Berücksichtigt man die ungünstige Bevölkerungsentwicklung, so wird erst recht deutlich, wie schwer es sein wird, das Ziel zu erreichen.

Eine Verkehrspolitik, die sich einseitig auf die Förderung des öffentlichen Verkehrs konzentriert, aber bei Konflikten mit Ansprüchen des Autoverkehrs zurückweicht, ist deshalb zum Scheitern verurteilt.

Erfolgreich kann rot-grüne Verkehrspolitik nur sein, wenn sie in jeder Hinsicht konsequent bleibt und auch die weniger verbindlichen Vereinbarungen in der Praxis verbindlich macht. Insofern bildet das Koalitionspapier eine Chance, aber keine Gewähr für eine neue Verkehrspolitik.

Im Mittelpunkt der außerparlamentarischen und parlamentarischen Tätigkeiten müssen deshalb Kampagnen stehen, die an den zu erwartenden Konflikten ansetzen. Die Politik jetzt den Regierenden zu überlassen, wäre der größte Fehler, den die WählerInnen der Regierung begehen können.

Stefan Klinski

1 DIW-Wochenblatt, 4/1988.

2 DIFU (Dieter Apel), Bericht für das Abgeordnetenhaus, Drucksache 10/2495 (Anlage).

Stefan Klinski war 1985-87 als AL-Abgeordneter für Umweltpolitik zuständig. Er nahm auch an den Koalitionsverhandlungen mit der SPD teil.