Jubiläum mit Schnupfen: das Tempo-Tuch

Wenn bald der Heuschnupfen einsetzt, sollte man wissen, daß es schon immer etwas teurer war, markenbewußt zu schneuzen / Ein Symbol der Wegwerf- Gesellschaft wird 60 / Bei einem Produkt, das sich von der Konkurrenz wesensmäßig kaum unterscheiden kann, sind markige Werbesprüche besonders gefragt  ■  Von Jürgen Lossau

Als noch das erste Menschenpaar

Vergnügt im Paradiese war,

Da brauchte es kein Taschentuch

Die Welt war voller Wohlgeruch,

Darin, mit ungeschneuzten Nasen,

Der Adam und die Eva saßen.

Erst, als die beiden Naseweisen

Durchaus den Apfel mußten speisen

Und sie zur Strafe daraufhin

Genötigt wurden auszuziehn:

Als Adam grub und Eva spann,

Wohl auch die Schnupfenzeit begann.

Der Adam, rauher von Natur,

Putzt mit der Hand die Nase nur;

Die Eva nahm bei Grippewetter

Wohl eins der alten Feigenblätter,

Das, nach erledigtem Bedarf,

Sie wieder in die Gegend warf

Ganz ähnlich, wie's heut wir Moderne

Mit Tempo-Tüchern wieder lernen.

Der Schriftsteller Eugen Roth hatte schon 1954 den richtigen Riecher. Bekannt geworden durch heitere Lyrik über menschliche Schwächen, verpflichteten ihn die Vereinigten Papierwerke in Nürnberg zu allerlei Lobeshymnen auf den Stolz des Hauses, die Ex-und-Hopp-Rotzfahnen Tempo. So entstand zum 25jährigen Tempo-Jubiläum das Kleine Buch vom Taschentuch, in dem auch das oben zitierte Gedicht zu finden ist.

Eugen Roth hatte seine Kunst an einen klassischen Markenartikel verkauft. Damit steht er in einer Tradition, die im vorigen Jahrhundert von Frank Wedekind begründet wurde. Bevor dieser unter die Dichter ging, reimte er auf Maggi-Flüssigwürze.

In der Tat gibt es nur wenige Produktmarken, die schon vor dem Krieg populär waren. Außer Maggi gehören Persil, Nivea, Uhu und Odol dazu. Das Tuch mit dem schnellen Namen Tempo ist schon seit 60 Jahren auf dem Markt.

„Tempo markiert den Anfang einer Entwicklung, die bis zur Wegwerfgesellschaft geführt hat. Für Mißbilligung gibt es indes keinen Grund: Bequemlichkeit erweist sich als stärker“, meint Dr. Wolfgang Doberauer, früherer Vorsitzender der Geschäftsleitung des Papiertuchproduzenten. Im Jahr 1989 kommt also nicht nur Tempo, sondern auch die Wegwerfgesellschaft allmählich ins rüstige Rentenalter.

Nase im Wind

Während das Luftschiff Graf Zeppelin die Welt in 288 Stunden umrundet, die ersten Mickey-Mouse-Streifen über die Leinwand flimmern und die deutschen Städte vom Auto erobert werden, hielten die Nürnberger Papierwerke ihre Nase in den Wind auf der Suche nach einem geeigneten Namen für ihr neues Wegwerftuch. Sie waren sich sicher: „Tempo heißt die Devise des Jahrzehnts.“

Seinen vorerst unaufhaltsamen Siegeszug startet Tempo am 29.Januar 1929. Die Vereinigte Papierwerke AG meldet ihre Marke beim Berliner Reichspatentamt an, wo das Warenzeichen im September des gleichen Jahres eingetragen wird.

„Kein Waschen mehr!“ heißt es schon auf der ersten 18-Stück -Packung Tempo, womit ein wesentlicher Produktvorteil des Newcomers benannt war. Aber auch die Eindämmung der Bakterienvermehrung, ein wirksamer Stopp ständiger Selbstansteckung und die allgemeine Hygiene schaffen Gründe für den Kaufanreiz, im Marketing-Deutsch Produktnutzen genannt.

Kaum zu glauben, was selbst an einem profanen Produkt wie dem Papiertaschentuch über die Jahre verbessert werden kann. Die Liste der Innovationen ist lang - Jahreszahlen, und was sich dahinter verbirgt: 1930 wird das Falten in Heimarbeit aus hygienischen Gründen in Werkstätten verlegt. Die Behörden machen diese Auflage, weil sie die Arbeitsbedingungen stärker kontrollieren wollen. Schon 1936 geben die Tempo-Macher ihrem Produkt einen umfassenden Vertriebsgrundsatz: „Der Verbraucher muß die Ware dort erhalten, wo er sie sucht. Ein Markenartikel unserer Art ist dazu bestimmt, in möglichst vielen Verkaufsstätten feilgehalten zu werden.“ Um nicht nur Apotheken und Drogerien, sondern auch Wäsche- und Papierwarengeschäfte für die quadratischen Packungen mit 25 Pfennigen Endverkaufspreis zu begeistern, plazieren die Vereinigten Papierwerke Anzeigen in Fachzeitschriften: „Dein Umsatz steigert sich im Nu, führst Tempo-Taschentücher Du...!“

1939 werden aus 18 Tüchern 20 Stück in Lagen. Das Packungsbild erscheint einheitlich blau-weiß bedruckt. Jürgen Vogel, Pressesprecher der Papierwerke in der fränkischen Metropole, nennt das „den Wechsel zu den bayerischen Farben“. Die Jahresproduktion erreicht 400 Millionen Tücher. Zum ersten und einzigen Mal wird 1951 der Tempo-Schriftzug verändert. Das neue Logo präsentiert sich auf den Packungen jetzt dynamischer und fortschrittlicher.

Sieben Ideen zur „Ruck-Zuck-Entfaltung“ finden die unermüdlichen Nürnberger im Jahr 1956. Drei davon meldet der Papierwarenproduzent als Gebrauchsmuster zur leichteren Entfaltung an. Die Schnellentfaltung führt zwei Jahre darauf zur grundlegenden Änderung der Tempo-Packung. Jetzt liegen die weißen Tücher dreifach gefaltet und als Stapel zu zweimal zehn Stück nebeneinander. 1963 kommt schon wieder ein neues Patent auf, „Tempo-Griff“ genannt. Eine kleine Kerbe an der obersten Lage des Taschentuchs erleichtert die Entfaltung. Die Werbestrategen versuchen sich erneut im Reimen: „Das Tuch mit dem besondern Pfiff - Tempo mit dem Tempo-Griff“ heißt es in großformatigen Anzeigen.

In einer Analyse untersuchen die Marketingexperten der Vereinigten Papierwerke 1967, ob sich der Aufbau einer ganzen Produktfamilie mi dem Titel „Tempo“ lohnt. Unter Verwendung des Namens ihres Flaggschiffs sollten auch andere Artikel flottgemacht werden. Eine Strategie, die von „Tesa“ und „Uhu“ sehr erfolgreich betrieben wurde. So erhalten die Taschentücher Nachwuchs: Servietten, Kosmetiktücher, später auch Küchenrollen.

1973 zeigt sich Tempo plötzlich bunt. Die bislang als „schneeweiß“ gepriesenen Tücher gibt es jetzt auch in Knallrot, Gelb und Orange. Aber die Farben halten sich nur kurze Zeit auf dem Markt. Der Verbraucher will ausschließlich das weiße Tuch an seine Nase lassen. Zehn Jahre später noch einmal ein Flop: die „Tempo Box“, 80 Taschentücher in einer wiederverschließbaren Schachtel. Im Büro, in der Küche und im Auto solte die Box aufgestellt werden. Aber schon die Aufstellung in den Regalen der Supermärkte brachte keinen Erfolg. Im gleichen Jahr versuchen es die Nürnberger nochmal. „Tempo Fresh“ heißt ihr erstes Feuchtreinigungstuch. Ohne Alkohol, Parfümzusatz und ph-neutral beschert es den Papierwerken steigenden Umsatz auf einem wachstumsstarken Markt mit wenig Konkurrenzprodukten.

Die Stationen der Tempo-Karriere zeigen die klassischen Merkmale des langlebigen Markenartikels auf: selten variierte Produktkennzeichnung, ständige Qualitätssicherung, Vertriebsbreite und hoher Bekanntheitsgrad - das Tempo-Tuch kennen nahezu 100 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung. Die dahinter stehende Firmen-Philosophie beschreibt der ehemalige Produktmanager von Tempo, Paul Reuter, besonders treffend: „Unser Produkt muß den zweiten Schritt vollzogen haben, ehe Mitbewerber den ersten getan haben.“

Doch völlig unverhofft hatte plötzlich ein anderer den richtigen Riecher. „Zewa“ kam mit seinen „Softies“ ins Marktgeschehen. Die wiederverschließbare Packung, die den Inhalt vor Staub und Zerfaserung bewahrt, gilt als eine Innovation, die den Vereinigten Papierwerken entgangen ist. Die Philosophie vom zweiten Schritt vor dem ersten wurde reichlich auf den Kopf gestellt. Erst 1988 hat auch das Tempo-Tuch eine Verpackung bekommen, die wiederverschließbar ist.

In den Jahren davor sollte ein hochgefahrener Werbeetat zur Stabilisierung des Tempo-Konsums dienen. Bei einem bundesweiten Umsatz von rund 200 Millionen Mark stellte Schickedanz 1982 für das Tempo-Tuch 6,5 Werbemillionen zur Verfügung. Inzwischen ist der Betrag drastisch hochgeschnellt. Über neuere Werte möchte sich aber PR-Mann Jürgen Vogel von den Vereinigten Papierwerken nicht äußern, sie seien „strategische Zahlen“.

„Mit Tempo sind sie immer gut betucht“ oder „Hilfreich sei der Mensch - edel das Tuch“, so strahlte es 1986 von kreideweißen Plakatwänden. Dem Verbraucher wird suggeriert, daß es schon immer etwas teurer war, einen guten Geschmack zu haben. Auch beim Wegwerftuch. Der überdurchschnittliche Preis ist nun einmal die Krux des altgedienten Markenartikels. Er muß mit hohem Aufwand für Werbung und Verkaufsförderung gestützt werden.

Noch augenscheinlicher wird der Versuch, den Konsumenten vom Synonym-Verwender zum handfesten Tempo-Kunden zurückzugewinnen, durch den munter geträllerten Hörfunk -Slogan: „Tempo - und nicht irgendwas.“ Der Umworbene möge alsbald erkennen, daß Taschentuch nicht gleich Taschentuch ist. Seit 1988 flimmert eine feiste Marktfrau über bundesdeutsche Bildschirme. Ohne Umschweife macht sie einen Knoten in das Tempo-Tuch und ist sich sicher: „Bei Schnupfen gibt's nichts Besseres.“ Der Spot endet, wie er beginnt: „Tempo“, heißt es schlicht, „das Richtige.“ Nun wissen wir also, daß Tempo nicht nur erstes, sondern auch einzig wahres Taschentuch sein will.

Zwar hat Tempo mit rund 50 Prozent Marktanteil noch immer die Nase vorn, aber „Zewa“, „Lotus“ und die No-Name-Tücher haben der Firma arg zugesetzt. Dazu kommt ein weiteres Problem, das Horst van Heukelum als erster Vorsitzender der Handelsvereinigung für Marktwirtschaft e.V. schon 1979 skizzierte: „Wer von Zellstoff-Taschentüchern redet, sagt 'Tempo‘ - der Markenname ist zur allgemeinen Produktbezeichnung geworden. Erfolg schützt vor Problemen nicht: Wenn die Verbraucher so ausschließlich, wie sie 'Tempos‘ im Munde führen, sie auch kaufen würden, wäre die Freude wohl ganz und gar ungetrübt.“ Im Klartext: Wer im Supermarkt nach „Tempos“ fragt, meint nicht unbedingt den Markenartikel, sondern schlicht irgendwelche Taschentücher. Eine Marke wird zum Gattungsbegriff, das trifft Tempo genauso wie Uhu, Tesa, Aspirin, Mondamin oder Moltofill.

600 Milliarden Tücher

60 Milliarden Zehnerpackungen, verbreitet in 45 Ländern, sind trotzdem eine stolze Bilanz für die Nürnberger. Die Stadt war schon immer eine Hochburg der Papierherstellung und -verarbeitung, seit 1392 dort die erste Papiermühle entstand. In den heutigen Werken der Vereinigten Papierwerke Schickedanz, einem inzwischen erfolgten Zusammenschluß mit der Quelle-Gruppe, werden rund 4.500 Kräfte beschäftigt. Zu den bekannten Produkten zählen - neben Tempo - die 65 Jahre auf dem Markt befindlichen Damenbinden „Camelia“, das Toilettenpapier „Bess“ sowie die Windelmarken „Moltex“ und „Burn“.

Mit 250 Millionen Mark zu Endverbraucherpreisen allein in Deutschland erzielen die Papierwerke aber nach wie vor ihren größten Umsatz mit den Wegwerftüchern. Keiner kann das besser ausdrücken als Jürgen Vogel: „Aus der positiven Rivalität zwischen 'Camelia‘ und 'Tempo‘ im Hause VP war Tempo als Sieger hervorgegangen.“ Und dafür, daß das auch in Zukunft so bleibt, steht der 1979 in Auftrag gegebene Tempo -Song:

Tempo muß man haben,

mit Tempo kannst du's wagen.

Tempo, das ist wichtig,

mit Tempo liegst du richtig.