Wendepunkt

Tagelang blickte die Weltöffentlichkeit nach Harrisburg. Zigtausende flohen aus der Umgebung des Atomkraftwerks Three Mile Island. Doch was sich hinter den meterdicken Betonmauern und im stählernen Kern von Block 2 des Atomkraftwerks damals abspielte, liegt auch „ten years after“ teilweise im dunkeln. Jahrelang hatte man angenommen, nur einige wenige Brennstäbe seien aufgeschmolzen. Inzwischen ist klar: Etwa siebzig Prozent des radioaktiven Inventars stürzten als weißglühender, siedender Sturzbach auf den Boden des Reaktordruckbehälters. Warum dieser der ungeheuren Belastung standhielt und so die ganz große Katastrophe ausblieb, ist den Experten bis heute ein Rätsel. Die Aufräumarbeiten - Kostenpunkt: bisher über eine Milliarde Dollar - sind auch heute noch nicht abgeschlossen. Die Hauptstadt Pennsylvaniens lebt weiter mit einer strahlenden Ruine vor ihren Toren.

Etwa 2.000 Schadenersatzklagen gegen die Elektrizitätsgesellschaft Metropolitan Edison Company wegen Krebs- und anderer strahlenbedingter Krankheiten wurden erhoben. Die Gesellschaft soll inzwischen außergerichtliche Zahlungen in Höhe von insgesamt 15 bis 20 Millionen Dollar geleistet haben. Gleichzeitig bestreitet sie jeden Zusammenhang mit der Reaktorschmelze, in deren Verlauf unbekannte Mengen radioaktiver Dämpfe in die Umgebung abgeblasen wurden.

Die US-amerikanische Atomindustrie hat sich von dem Unfall in Harrisburg nie erholt. Weit über hundert AKW-Projekte wurden gestrichen, im Bau befindliche Reaktoren nicht zu Ende gebaut, betriebsbereite nicht ans Netz genommen, weil die Betreiber vorher Pleite gingen oder keine angemessenen Evakuierungspläne vorlegen konnten. Meldungen über Drogenmißbrauch in den Kontrollräumen und beängstigende Prognosen über die Häufigkeit schwerer Unfälle taten ihr übriges. Heute dienen - analog der bundesdeutschen und europäischen Atomgemeinde - Treibhauseffekt und Klimakrise als Hoffnungsschimmer für eine zweite Atomenergie -Konjunktur.

gero