Parteidialektik

■ Die KPdSU gewinnt - ihr Apparat verliert

Wenn eine westliche Presseagentur schreibt, Boris Jelzin habe bei den Wahlen gegen den Kandidaten der Partei gewonnen, dann ist dies offensichtlich ein Fauxpas. Denn selbstverständlich ist auch Jelzin Mitglied der Partei. Bei der Wahl wurde nämlich klar: Einfluß in der Bevölkerung zu haben, also glaubwürdig und gleichzeitig prominenter Repräsentant der Partei zu sein, schließt sich nicht mehr aus. Selbst die übergroße Mehrheit der Deputierten aus den aufmüpfigen baltischen Volksfrontbewegungen ist Parteimitglied. Die Dialektik der Perestroika in der Partei zielt auf ihre Renovierung. Ganz gleich, wie die Wahl in den einzelnen Wahlkreisen ausgehen wird, der Sieger steht schon fest: die KPdSU.

Angekratzt dagegen wurde die Allmacht des Parteiapparats. Wie im Fall Jelzin ließen sich auch andernorts die WählerInnen durch die Behinderungen und Einschüchterungen unliebsamer KandidatInnen nicht irritieren. Die Widerstände aus dem Apparat haben ihnen nur genützt. Wer - wie die Moskauer Parteispitze im Fall Jelzin - so offensichtlich Druck auf die Presse ausübte, sitzt nun in einem Scherbenhaufen. Und die Erfolge der Volksfronten in den baltischen Ländern zwingen die Parteien dort zu einem schnelleren Gang in Sachen Perestroika. Denn die Wahlsieger haben sich zumindest in diesen Republiken zu echten Repräsentanten der Bevölkerung gemausert.

Trotz der Politisierung der Bevölkerung, trotz der Erfolge unabhängiger Geister aus den Reihen der Partei bleiben dem Apparat noch manche Trümpfe. Denn gewählt wurden nur die 2.250 Delegierten, die aus ihren Reihen dann erst das neue Parlament zu bilden haben. Und dort bleiben die radikaleren Reformer weiter in der Minderheit. Die ersten Schritte hin zur Demokratisierung des Systems sind jetzt jedoch gemacht. Die Debatte über die Unzulänglichkeiten des Wahlsystems, das nach wie vor dem Apparat zuviel Einfluß ließ, hat schon begonnen. In den baltischen Ländern sind für die Wahlen der Obersten Sowjets der Republiken im Herbst schon neue, offenere Wahlgesetze anvisiert. Ein Mehrparteiensystem jedoch hat auch in absehbarer Zukunft wenig Chancen.

Erich Rathfelder